Ausgabe 07 - 1998berliner stadtzeitung
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Vorsitzender des Erdballs

Die Volksbühne reitet wieder voran mit dem Rückgriff auf weniger Bekanntes aber Altes. Es wird in den Annalen der Avantgarde gebuddelt. Das ist man schließlich seiner JungenGardeRolle auch schuldig. Und Russen kommen auch immer gut an.

So gibt es also das neue Stück "Perpetuum Mobile" von Ruedi Häusermann, in welchem der Frage nachgegangen werden soll, inwieweit Zukunft berechenbar ist. Texte von Paul Scheerbart und Velimir Chlebnikow finden Verwendung. Während Scheerbart noch einigermaßen bekannt sein dürfte, ist Chlebnikow wohl mehr etwas für Liebhaber, was sehr schade ist. Aufklärung tut not."Vorsitzender des Erdballs" - dieser Name wurde ihm von seinen Freunden Mariengof und Jessenin verliehen. Er bezeugt Hochachtung und auch Verständnis für einen Menschen, dessen Werk heute leicht als absurd abgetan werden könnte. Lautgedichte, Berechnungen der Zukunft, Zahlenmystik, transmentale Sprache als Stichwörter. Leicht wäre es, diese Dinge mit Dada gleichzusetzen. Das klappt aber nicht. Denn der Verfasser dieser wirklich oft abstrusen Texte meinte alles ernst.

Geboren bei Astrachan im Jahre 1885 kam er über Umwege nach dem Mathematik-und Physikstudium nach Petersburg zu Verwandten. Das war 1908. Schon in seiner Studienzeit hatte er literarische Versuche unternommen, die er beispielsweise Maxim Gorkij zuschickte. Dieser betrachtete sie "mit Wohlwollen". Zunächst standen seine Texte sehr unter dem Einfluß der russischen Symbolisten. Er war auch sehr oft Gast in Iwanows "Akademie des Verses", einer Art literarischem Salon. In diesem Umfeld lernte er Alexej Krutschonych kennen, einen der Mitbegründer des Kubofuturismus, der literarischen Abart des Futurismus. Eine andere Bezeichnung ist "Budjteljne", zu deutsch: "Zukünftler". Zu diesem Kreis gehörten beispielsweise Majakowskij und der spätere Suprematist Malewitsch. Mit Krutschonych zusammen entwickelte Chlebnikow die Theorie der transmentalen Sprache - "Za'um". Das war 1911. Damit verabschiedeten sie sich völlig vom Symbolismus mit seiner wabernden Geistgkeit voller Anspielungen und eben Symbole. Es ging darum, die Sprache völlig zu erneuern. Sie waren die neue Generation, die mit dem Alten aufräumen wollte. Eine Rebellion gegen den Akademismus der damaligen Zeit. Dazu gingen sie zu den Ursprüngen der russischen oder auch slawischen Kultur zurück. Hier konnten sie aber schon auf Vorleistungen der Symbolisten zurückgreifen, von den sie dann doch nicht unbeeindruckt geblieben waren. Neu war das daraus Geschaffene. Das "Wort als solches" sollte wirken. Chlebnikow wollte das "Urwort" eines jeden Ausdrucks rekonstruieren. Dazu bediente er sich der damals aufkommenden Wortbildungslehre. Es gibt einen seitenlangen Text, der nur auf der Wortwurzel von lachen (russ. smech) basiert: "Ihr Lacherer, schlagt die Lache an!/ Die ihr vor Lachen lacht/ die ihr lachhaftig lachen macht,/ lach aus, Lach ein,/ Lacherich, Lacherach..." (aus "Beschwörung durch Lachen", 1909). Formal richtige Worte, die aber keine normalsprachliche Bedeutung haben. Ihre Bedeutung sollten sie erst erhalten, wenn die Zaum-Sprache als universales Kommunikationsmittel in einer neuen Gesellschaft durchgesetzt werden würde. Ein totales Kunstkonzept, nicht nur auf sprachlicher Ebene, das den Futuristen vorschwebte. Nur der Künstler sollte (laut Malewitsch) in der Lage sein, die neue Gesellschaft zu regieren und umzugestalten. Ein Konzept , das pervertiert unter Stalin als allumfassender Sozrealismus auch in die Tat umgesetzt wurde. Ironie der Geschichte. Das nur nebenbei.

"Die Endgültigkeit der von ihm publizierten Sachen ist eine Fiktion ... zum Korrekturlesen war er unmöglich zuzulassen - er strich immer alles durch , alles, und schrieb dann einen neuen Text." (Majakowskij). Dem Leser ist die Deutung überlassen. " Wenn er las, brach er manchmal mitten im Wort ab und gab den Hinweis: 'Na und so weiter.'" Ein Typ, wie er gelegentlich erfunden wird. Ein Genie ohne Ehrgeiz, das davon keine Ahnung hat, was seine Schriften, für die jungen Futuristen bedeuten. Sie sehen ihn als ihren Lehrmeister an, als (den) Erneuerer der Sprache. Den Schöpfer einer neuen Sprache für eine neue Welt, die geschaffen werden sollte nach einer Revolution. Den alten Ballast der Bedeutungen wollten sie über Bord werfen und noch einmal von vorne anfangen. Neue Sprache schafft neues Bewußtsein als These.

Danach wandte er sich der Mathematik zu und der Frage, inwieweit die Zukunft berechenbar sei. Er entwickelt eine bizarre Geschichtsphilosophie, auf deren Grundlage er überzeugt war, daß das gesetzmäßige Eintreten bestimmter historischer Weltereignisse im voraus mathematisch berechnet werden könne. Für das Jahr 1917 sagte er so den Untergang eines großen Staates voraus! Die magische Zahl war 317.

Chlebnikow war ein Typ, der stets nur seinen Eingebungen folgte und das tat, was ihm beliebte. An Ruhm war er wenig interessiert, was ihn von seine Kollegen sehr unterschied, die lautstark nach Anerkennung oder wenigstens Aufmerksamkeit schrien. Während der Revolutionswirren setzte er sich aus der Stadt ab. Es wird berichtet, daß er sich einfach auf einen Lastwagen schwang, der Richtung Süden fuhr. Während des Bürgerkrieges mußte er in einem Reservebataillon der Roten Armee Dienst tun, das ihn auf seinen Wanderungen, die ihn weit in den Osten führten, aufgegriffen hatten.

Auf diesen Wanderungen hörte er viel über Volksmythen. Nachdem es ihm durch ein psychologisches Gutachten endlich gelungen war, aus der Armee zu scheiden, setzt er, geschwächt von zwei Typhusinfektionen, seine Wanderungen fort. Überleben konnte er nur durch Spenden seiner Freunde. Er wanderte in Lumpen durch die Gegend, hatte kein Geld. Seine Manuskripte schlepppte er in einem zerschlissenen Kopfkissenbezug mit sich herum. Mit dem Futurismus hatte er schon 1916 gebrochen, nach einem Auftritt Marinettis in Rußland. Dieser hatte eine große Ernüchterung nicht nur bei ihm zufolge. Der Name Futurismus blieb trotzdem als Bezeichnung für die Strömung, nur mit dem Attribut russisch.

Das übergroße Interesse bei Chlebnikow für Asien brachte ihn mit der Roten Armee nach Persien, wo er den Koran studierte und Gespräche mit Derwischen führte. Von ihnen wurde er auch manchmal als "russischer Derwisch" bezeichnet, was von Hochachtung zeugt. Danach tauchten in seiner Dichtung mehr Exotismen auf. Meistens verfaßte er nur noch Poeme, verwendete also mehr und mehr klassische Formen. Von der Avantgarde hatte er sich künstlerisch abgewandt, was rückblickend nur als klug bezeichnet werden kann. Zwar ließ man den jungen Künstlern anfangs viel Freiheit. Sie durften ihre revolutionär neue Ästhetik umsetzten, sogar die Maifeierlichkeiten in Petersburg 1921 ausrichten. Man stelle sich den ganzen Platz zwischen Admiralität und Winterpalais geschmückt mit suprematistischen ( Stichwort: Schwarzes Quadrat) Gemälden und futuristischen Losungen vor, vor denen noch Szenen und Stücke gleicher Herkunft gespielt werden. Ein großer Revolutionszirkus unter freiem Himmel. Eine bizarre Vorstellung, die heute in die Tat umgesetzt oder wiederholt, genauso bizarr wirken würde. Sie durften solange "spielen", wie sie sich instrumentalisieren ließen. Solange, bis sich die neue Macht gefestigt hatte. Danach hieß es für die Avantgardisten, sich entweder zu arrangieren und zu funktionieren, d.h. Revolutionskitsch zu verzapfen oder zu gehen.

Chlebnikow hatte damit nichts mehr zu tun. 1920 nahm er eine Stelle als Nachtwächter in Pjatigorsk an. Dort enstand auch sein poetologisches Vermächtnis "Sangesi", das versuchte, die herkömmlichen Gattungsgrenzen zu überwinden. Bei seiner Vorstellung stieß das Poem auf Unverständnis. Zu Komplex, zu wenig dem Zeitgeist entsprechend vielleicht.

In der Gegend von Nowgorod brach er im Juni 1922 zusammen. Majakowskij hielt die Grabrede und nannte Chlebnikow "einen unserer dichterischen Lehrmeister und einen großartigen und ehrenhaften Ritter in unserem poetischen Kampf".

Zu Sowjetzeiten war Chlebnikow eine "Unperson", offiziell hatte es ihn nie gegeben, so wie auch Daniil Charms, der schon längst hier für die Bühne entdeckt worden ist. Der ist auch einfacher und lustiger. Genau das Richtige für unsere Spaßkultur ohne viel Hintergedanken. Häppchenweise und ganz harmlos, das geht bei Chlebnikow nicht, hoffentlich jedenfalls. Aber bei der Volksbühne weiß man ja nie. Wahrscheinlich ist der ungebrochene Zukunftsglaube dieser Dichter in einem gewissen Zeitabschnitt das heute Interessante. Sie lebten in einer Phase der Umwertung und Rückbesinnung. Wir auch, irgendwie. Der Unterschied ist, das es damals Leute gab, die zu wissen glaubten, wie es weitergeht. Die an etwas glaubten. Da kann man nur neidisch werden. Daß alles schon mal dagewesen ist, wissen wir. Eben.

Ingrid Beerbaum

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