Ausgabe 06 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest in Berlin

Donnerstag, 19. März

10 Uhr - Wir treffen uns im Haus der Demokratie.

10.45 Uhr - Wir sind jetzt 18 Leute, die die Bewerbungsformulare des Arbeitslosenverbandes ausfüllen. Dann in die U-Bahn. Im Foyer des Arbeitsamtes Süd in Kreuzberg kleben wir Plakate für die Demo am 7. April und kommen dabei mit anderen sogenannten Arbeitslosen ins Gespräch. Zwei türkische Kollegen schließen sich uns an.

Die stellvertretende Chefin der Personalabteilung, Schulze, tut cool, als wir vor ihr stehen. Wir sollen einzeln eintreten. Stattdessen breiten wir unsere Bewerbungen auf ihrem Schreibtisch aus. Sie will sie weiterleiten, aber uns keine Belege überlassen. Wir protestieren. Herr Mix mischt sich ein. Er war auch mal arbeitslos und will uns daher Stempel geben. Einige Formulare legt er weg, da sie nicht ernsthaft gemeint seien. Die meisten nimmt er jedoch an, kopiert sie, stempelt die Originale und gibt sie uns wieder. Wir bedanken uns und gehen. Im Foyer bemerken wir, daß unsere Plakate bereits entfernt wurden.

12 Uhr - Wir besuchen die taz. Redaktionschef Tenhagen hat gerade Besprechung. Wir dringen in sein Büro ein und warten zunächst einmal ab. Tenhagen wendet sich uns zu und nimmt betont locker auf seinem Schreibtisch Platz. Unseren Artikel will er nicht abdrucken. Das sei ein Prinzip.

In dem Artikel beschweren wir uns über das geradezu betonte Desinteresse der taz gegenüber aktiven Arbeitslosen wie uns. Andere Berliner Tageszeitungen haben ausführlicher und besser über unsere Aktionen berichtet. In der taz waren im Vorfeld der letzten Arbeitslosendemo noch nicht einmal Treffpunkt und Zeit genannt. Tenhagen sichert zu, unseren Aufruf an die BVG öffentlich zu machen, zur nächsten Demo am 7. April Arbeitslose zum Null-Tarif zu befördern, um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit herzustellen. Weiter wollen wir im überregionalen Teil der taz zwei Seiten selbst gestalten, am besten kurz vor der nächsten Arbeitslosendemo und für das taz-übliche Zeilenhonorar. Wir vereinbaren einen weiteren Gesprächstermin. Einige von uns sind inzwischen ausgeschwärmt und kopieren Flugblätter und Plakate. Die Technikabteilung schenkt uns einen Computer.

13 Uhr - Wir haben Hunger. Die Erdgeschoßräume des taz-Hauses beherbergen ein teures italienisches Restaurant, das "Sale e Tabacchi". Wir schieben ein paar Tische zusammen uns setzen uns. Wir haben Gutscheine dabei, die ein Kollege von der IG-Metall entworfen hat. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziale Unordnung berechtigt uns, Speisen im Wert von 20 DM bei diversen Luxusrestaurants einzunehmen. Wir bitten den Chef, uns doch irgend etwas Pauschales zu machen, für 20 DM pro Kopf, Käseplatten zum Beispiel und Tischwein. Der ist irritiert und verschwindet in der Küche.

Nach einer Viertelstunde werden wir unruhig und rufen zaghaft "Hunger, Hunger". Der Chef kommt und beschwichtigt. Wir kriegen Suppe, leider aber keinen Wein, sondern nur italienisches Sprudelwasser und Brot. Die Kellner schenken jedem einzeln ein. Dafür kriegen sie später auch Trinkgeld.

14 Uhr - Nach dem Essen nehmen wir den Kaffee in der taz-Kantine ein.

17.15 Uhr - Prater, Prenzlauer Berg. Es ist gerade Versammlung im Büro von "Chance 2000". Gedrückte Stimmung, Schlingensief hat anscheinend keine große Lust mehr. Wir geben unsere Flugschrift herum. "Heute Erwerbslosenvorstellung" steht da in altdeutscher Fraktur, und "es gelten geänderte Eintrittspreise". Den Erlös teilen wir mit der Antirassistischen Initiative, die ihn an illegale Immigranten verteilt. Schlingensief findet unsere Aktion ganz in seinem Sinne. Die von der Volksbühne, der die Einnahmen der Abendkasse eigentlich zusteht, greifen zum Handy.

18 Uhr - Die Abendkasse öffnet. Wir postieren uns vor dem Kassenzelt. Die Kassiererin protestiert. Die ersten Zuschauer kommen und wollen die vorbestellten Karten erwerben. Die verkaufen wir ihnen. Der Einlasser will unsere Eintrittskarten zunächst nicht akzeptieren. Die Zuschauer bestehen auf der Gültigkeit und setzen sich durch. Später erklärt die Volksbühne die Vorstellung zur Benefizveranstaltung.

19.30 Uhr - Chance 2000 will nicht auftreten, heißt es. Wir sollen jetzt zusammen mit dem Circus Sperlich die Vorstellung bestreiten. Antje meint, was Schlingensief kann, können wir auch.

19.50 Uhr - Die Vorstellung fängt an, zunächst mit dem Circus Sperlich. Der ist zum Glück wirklich gut. Zweimal betreten wir die Manege und diskutieren mit dem Publikum. Schlingensief rennt irgendwann in die Manege und kritzelt etwas an die Tafel. Die Publikumsreaktion ist gespalten. Wahrscheinlich ist das immer so bei Schlingensief. Wir sind auf jeden Fall zufrieden: 2545 DM sind in der Kasse.

22 Uhr - Wir feiern ab.

Für das Protokoll: Christof Schaffelder

Nächste Arbeitslosendemonstration vor dem Landesarbeitsamt in der Kochstraße am 7. April ab 10 Uhr.
Treffen der Initiative Arbeitslosenprotest jeden Montag, 16 Uhr, im Haus der Demokratie.
Aktionstreffen donnerstags ebd. 10 Uhr.


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  Ausgabe 06 - 1998