Ausgabe 06 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Seemanns Braut ist die See

Aus der Wohnung wurde in den letzten neun Jahren ein Frachtschiff. Es ist schwer, kaum noch steuerbar, der Anker liegt im Keller und wiegt eine Tonne. Vom Krähennest im Mast späh ich nur Tinnef, in meinen Augenwinkeln tobt die rush hour. Ein Umzug war der letzte Ausweg. Das Schiff ist gekündigt und ein anderes gechartert. Die Aktion macht aber nur Sinn, wenn ich mindestens die Hälfte meiner Habe über Bord gehen lasse, sonst fährt das Neue auch nicht leichter. Also wage ich einen Test im Laderaum. In der Hand eine große blaue Mülltüte, die voll werden soll.

Vielleicht das buntleuchtende Marienbildchen mit dem goldenen Plastikrahmen? Das hat eh nur eine Woche geleuchtet, bevor es den Geist aufgab. Obwohl, in den Rahmen kann man noch ein Foto kleben und es dann verschenken.

Aber diese Kabel hier! Ja, das tut gut. Na bitte, geht doch. Es folgen einige arglose Uhren ohne Batterie, Taschenrechner und andere Werbegeschenke. Das läuft so ganz gut, bis diese elende Rothaut aus Hartgummi auftaucht. Mit Indianern spiele ich ja heute kaum noch. Mmmm. Ich weiß sogar noch seinen Namen. Das hier, auf meinem stolz gewölbten Handteller, ist Tecumseh. Der stand, verdammt noch mal, immer auf der richtigen Seite. Und nun in die heiligen Müllgründe? Meinen Blutsbruder? Mein Blut für sein Blut!

Und dann geht es bergab. Angelplunder, Perlen, Münzen aus fremden Ländern, Muscheln, Hühnergötter. Ich versuche es in der Kombüse. Entledige mich wahllos einiger Gläser und leerer Gewürzdöschen. Verflossene, eingestaubte Rosen. Blumentöpfe. Häßliche Vasen. Ein einziger Rausch! Weg mit dem Ballast! Im Kühlschrank finden sich alte halbvolle Senfgläser, abgepackter Ketchup aus dem Flugzeug (wohin ging das noch gleich?). Die Mülltüte hängt unerbittlich. Schlaff wie ein Segel in der Mittagsflaute.

So geht das nicht weiter. Ich fülle den Müllsack mit dem Inhalt ohnehin fälliger Mülleimer und Papierkörbe, und auf einmal fühlt er sich gar nicht mehr so schlaff an. Ja, da ist schon Wind in den Segeln! Hmmm. Vielleicht die zwei alten Gitarren weggeben? Auf den Gitarren kann man seit langem nicht mehr spielen. Aber dahin muß man eine Gitarre erst mal bringen. Warum habe ich eigentlich keine Eltern mit einem Dachboden in Hessen? Das wäre doch völlig normal. Das hat doch heute jeder. Oder warum schlägt nicht der Blitz ein? Dann könnte ich es aufs Schicksal oder die Moiren oder die Notwendigkeit schieben.

Was solls. Der Müllbeutel ist zu zwei Dritteln gefüllt, und wenn ich jetzt noch einen Knoten rein mache, kann keiner was sagen.

André Caspary

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