Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
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Hauptstadt der Arbeitslosen

Seit Januar gibt es ein Aktionsbündnis Erwerbslosenprotest

Turbulent geht es zu auf den montäglichen Treffen des Aktionsbündnisses Erwerbslosenprotest in Berlin. Arbeitslose, Scheinselbstständige, Gelegenheitsjobber und Studenten treffen sich hier, um gemeinsam eine Soziale Bewegung der Erwerbslosen in Berlin zu behaupten.

Das Vorbild ist Frankreich.

Dort ist die Bewegung der Arbeitslosen bereits fest etabliert. Nicht nur Organisiationen wie AC! (Agir ensemble contre le Chomage!, d.h.: Gemeinsam gegen Arbeitslosigkeit handeln!) und die kommunistische Gewerkschaft CGT tragen den Protest auf die Straße, auch lose Aktionsgruppen haben sich formiert. In der Universität von Jussieu zum Beispiel, im Zentrum von Paris, treffen sich täglich zwischen 150 und 500 Aktivisten im Audimax, um Erfahrungen auszutauschen und Aktionen zu koordinieren. Das ist etwa eine kurzfristige Besetzung von Mautstellen an der Autobahn ("péage") zur Geldbeschaffung: die Mautpflicht wird vorübergehend aufgehoben, die Autofahrer statt dessen um eine Spende gebeten, wodurch zehntausende Francs zusammenkommen. Ein Teil der Einnahmen geht übrigens immer an die Bewegung der illegalen Immigranten ("sans papiers"). Andere Aktionen sind Besetzungen von Arbeits- und Sozialämtern, von Betriebskantinen und Elektrizitäts- und Gaswerken. Dort werden dann spontane Betriebsversammlungen durchgeführt und konkrete Anliegen erörtert: vom kostenlosen Kantinenessen für Arbeitslose, der Durchsetzung von konkreten Sozialhilfeanträgen bis hin zur Strom- und Gasversorgung Erwerbsloser. Viele Mitarbeiter der Versorgungsbetriebe weigern sich inzwischen, Strom und Gas von Bedürftigen zu kappen.

In Berlin steckt die Arbeitslosenbewegung dagegen noch in den Kinderschuhen. Im Haus der Demokratie in Berlin treffen sich wöchentlich rund 70 bis 80 Leute. Der Zustrom ist groß, aber nicht alle bleiben kontinuierlich dabei. Die Diskussionen verlaufen noch zu chaotisch. Andauernde Arbeitslosigkeit ist eben für die meisten doch ein Prozeß der Demütigung, der Spuren hinterläßt. Wer sich aus der gesellschaftlichen Isolation herausbegibt, die Arbeitslosigkeit eben vielfach bedeutet, der hebt schnell ab, wenn sich eine sinnvolle gesellschaftliche Perspektive bietet - die freigesetzten Emotionen behindern dann eine zielgerichtete, strukturierte Debatte.

Dennoch beginnen sich Strukturen herauszubilden. Mit Unterstützung des Antidiskriminierungsbüros im Haus der Demokratie gelang es, dort ein Büro zu bekommen - zunächst einmal mietfrei, nach einem Vierteljahr aber mit Zahlungsverpflichtung. Es haben sich Arbeitsgruppen gebildet, in denen konkreter diskutiert und organisiert werden kann. Es wurden erste Aktionen in Arbeitsämtern durchgeführt. Nicht zuletzt lag die Hauptlast der Mobilisierung für den zweiten Aktionstag der Arbeitslosen am 5. März bei der Aktionsgruppe. 30000 Flugblätter wurden gedruckt und verteilt. Der Stimmung nach zu urteilen hätten deutlich mehr als die rund 5000 Teilnehmer des ersten Aktionstages kommen müssen. Es kamen vielleicht 1500. Im Februar berichtete allerdings die Presse ausführlich im Vorfeld, während diesmal kaum eine Nachricht erschien. Auch an die Wechselhaftigkeit der Medien wird man sich also gewöhnen und künftig zielgerichteter arbeiten müssen. Dazu gehört eine rechtzeitige Plakatierung genauso wie frühzeitige Koordination mit dem der DGB. Der hatte diesmal zu einer eigenen Demonstration aufgerufen, zu der aber noch weniger Teilnehmer kamen.

Inhaltlich konzentrieren sich die Debatten langsam auf Schwerpunkte. Auf der einen Seite geht es um konkrete "Überlebensfragen": etwa die Situation auf den Arbeitsämtern, wo nach der Einführung des neuen Sozialgesetzbuches zu Jahresbeginn die Sachbearbeiter zu Scharfrichtern werden können. Sind sie der Meinung, daß ein Leistungsbezieher sich nicht eifrig genug bewirbt, können sie die Unterstützung streichen - die Arbeitslosen sind dann völlig mittellos, da die Sozialämter die Bewerbungspflicht sogar noch rigider handhaben. Auf jede gemeldete freie Stelle kommen im Berlin genau 49,1 Arbeitssuchende, die Bewerbungspflicht wird dadurch vollkommen absurd. Persönlichen Ressentiments der "Arbeitsvermittler" sind mit dem neuen Gesetz aber Tür und Tor geöffnet - man kann sich ausmalen, was das zum Beispiel für nur schlecht deutsch sprechende Immigranten bedeutet.

Oder der öffentliche Nahverkehr: 3,90 DM für einen Einzelfahrschein der BVG sind für viele so gut wie unerschwinglich. Das durchschnittlich ausgezahlte Arbeitslosengeld lag in Berlin-Brandenburg im März 1997 (seitdem wurde die Statistik eingestellt) bei rund 1100 DM, die Arbeitslosenhilfe bei rund 750 DM im Monat. Viele sind dadurch faktisch vom Grundrecht auf Freizügigkeit ausgeschlossen.

Auf der anderen Seite drehen sich die "alternativen" Diskussion zunehmend um ein existenzsicherndes Mindesteinkommen und ein einklagbares Recht auf bezahlte Arbeit, die, staatlich finanziert, vor allem im bisher ehrenamtlich geleisteten Bereich der persönlichen Dienstleitungen zu finden sein soll. Ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts wird ohne diese Elemente seines Namens wohl nicht würdig sein, ohne gesellschaftliche Kämpfe wird sich so ein Sozialstaat aber nicht durchzusetzen. Im Aktionsbündnis plant man deshalb auch in weiterer Perspektive. Nicht die Bundestagswahl im September, sondern der Regierungsumzug 1999 steht als Nahziel im Raum. Dann soll die Regierung merken, daß sie in der Hauptstadt der Arbeitslosen gelandet ist, hieß es auf der Kundgebung vor dem Landesarbeitsamt, und daß die Erwerbslosen in Berlin die Schnauze gehörig voll haben.

Christof Schaffelder

Das Aktionsbündnis trifft sich jeden Montag um 16 Uhr im Haus der Demokratie und hat dort das Büro 46a. Der nächste Aktionstag ist Dienstag, der 7. April. Getroffen wird sich vorraussichtich wieder vor dem Landesarbeitsamt in der Friedrichstraße (direkt am U-Bahnhof Kochstraße).

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