Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
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"Bin Wanderer zwischen den Welten"

Der Dokumentarfilmer Andreas Voigt und seine Leipzig-Filme

In der Dämmerung entfernt sich die Kamera langsam vom Auto auf dem großen, leeren McDonalds-Parkplatz. Diana fragt: "Wie lange drehen die jetzt eigentlich schon in Leipzig?", darauf "Papa": "So zehn Jahre ungefähr." Diana: "Ich denke, zehn Jahre, da hat sich ganz schön was verändert. Wer weiß, wie es in zwanzig Jahren ist ..."

Als Andreas Voigt 1989 begann, in den Wendewirrnissen Menschen und ihre Schicksale mit der Kamera zu begleiten, hätte man die Frage auf fünf Jahre oder sechs oder sieben verkürzen können. Viel ist passiert in diesen schnellen Jahren. Damals jedoch fragte niemand. Zu drängend war die Gegenwart, kaum Platz für Zukunftsvisionen.

1986 zog es Andreas Voigt erstmals nach Leipzig. Damals ahnte er nicht, daß er über zehn Jahre immer wieder kommen würde. 1987 entstand "Alfred", die filmische Rekonstruktion des Lebens eines Unangepaßten aus Überzeugung. Im Herbst 89 war Voigt wieder vor Ort, um ein filmisches Dokument des allgemeinen und wilden Aufbegehrens zu schaffen: "Leipzig im Herbst". Die einzelnen in der Masse, ihre Motive, Gedanken, Wünsche und Hoffnungen interessierten ihn in "Letzes Jahr Titanic" (Dezember 89 - Dezember 90). Einigen von ihnen blieb er dann über Jahre verbunden. "Glaube Liebe Hoffnung" (Dezember 92 - Dezember 93) nähert sich jenen, die zweifeln und hassen. Jungendliche am Rande der Gesellschaft, auch sie begehren auf. Mit "Große weite Welt" (Oktober 89 - Juni 97) ist ein vorläufiger Schlußpunkt erreicht. Man ist angekommen in einem festen Gefüge. Die Zeit ist nicht weniger brüchig heute, im Gegenteil, die sozialen (Um-)Brüche sind einschneidender, aber der Widerstand erlahmt. Illusionen sind eine Menge weggebrochen, mit den lakonischen Worten von Dietmar: "Die große weite Welt wurde eröffnet und wer einen Job hatte, durfte teilhaben." Der Blick nach vorn im Zorn ist dem zur Seite gewichen, auf der Suche nach schützenden Nischen. Ist es auch ein Endpunkt?

"Erst mit dem Tod gibt es einen Endpunkt. Nach all diesen letzten Jahren mit ihren wahnsinnigen Brüchen und Verwerfungen und tiefen Veränderungen, nach all diesen Tälern und Hügeln, die man in den letzten Jahren über- und durchquert hat, sind erst einmal alle irgendwo angekommen, so wie ich selbst auch. Aber man weiß ja aus Erfahrung, daß eine Ebene nicht immer eine Ebene bleibt. Läuft man weiter, dann zeigt sie irgendwann Risse, mehr oder weniger große."

So unterschiedlich wie die Lebenslinien ist auch der Ort der Ankunft. "Papa", der frühere Redskin, präsentiert uns stolz seine Sammlung militärischer Auszeichnungen. Seine Nische sind die Freundin und die Bundeswehr. Wie ambivalent dieser Lebensweg ist, sagt er selbst: "Ich wollte immer, daß sich eine Einheit der ganzen Gesellschaft bildet. Daß es nicht diesen krassen Unterschied zwischen Arm und Reich gibt. Jetzt habe ich mitbekommen, daß man daran nichts ändern kann und versuche, halt einigermaßen im Strom mitzuschwimmen. Die Liebe... ist etwas, wofür es sich lohnt zu leben und zu arbeiten." Isabell, die kleine Punkerin aus dem Leipziger Abrißviertel, ist jetzt Rechtsanwaltsgehilfin im Schwäbischen. Während sie sorgsam ihre Hosen auf Falte bügelt, erzählt sie von den Irritationen der ersten Zeit: "Die Einstellung der Leute zueinander... es ist halt nicht so herzlich gewesen. Hier guckt man schon - wenn man was macht - was man für eine Gegenleistung dafür kriegt. Ich sehe inzwischen auch, daß ich einen Nutzen davon hab. So hart, wie ´s klingt." Und Sylvia, die selbstbewußte Kneiperin von damals, steht wieder hinterm Tresen - allerdings dem ihrer Einbauküche. Ihr Traum von selbstbestimmter Arbeit ist dem nach der Ferne der Karibik gewichen. Ihr pragmatischer Mann Dietmar dagegen arbeitet sich zielstrebig seinem Traum vom Tauchlehrer entgegen. Er könnte es schaffen.

Tragödien enden in der Regel mit Katastrophen

Da sind auch wieder die Frauen aus der Näherei, inzwischen pensioniert oder trotzdem ohne Arbeit; Wolfgang aus der Gießerei, der nach tiefem Sturz in ein noch fragiles Gleichgewicht zurückgefunden hat. Und Renate, die tragischste Figur des Filmes, trägt noch immer schwer an der Last ihrer Stasi-Vergangenheit. Auf Voigts Frage, ob sie mit ihren Erlebnissen fertiggeworden sei, antwortet sie: "Fertig damit, nein, aber ich kann mit mir leben." Ihre Lebensgeschichte hat für Voigt die "Dimension einer antiken griechischen Tragödie. Wir wissen ja, wie solche Tragödien enden - in der Regel mit der Katastrophe, wenn es nicht vorher noch zu einer Farce wird. Was geschieht, ist der Versuch des Bewußtmachens, aber auch Abarbeitens in irgendeiner Form. Und deswegen sicher dieser Gedanke bei ihr, das irgendwann mal aufschreiben. Wenn sie im Film ihre Geschichte erzählt, ist das ja auch eine Form von Bearbeitung ihres Lebens. Aber ohne Verdrängung kann man nicht leben." Diese verletzbare Frau, die ihre Vergangenheit akzeptiert, deren Schatten aber bekämpft, ist achtunggebietende Hoffnungsträgerin des Films. Für sie gibt es nur ein Vorwärts.

Die erzählten Lebenswege in ihrer an Preisgabe grenzenden Offenheit und Ehrlichkeit stimmen nachdenklich, manchmal betroffen. Vermutlich auch deshalb, weil man sich in ihnen wiedererkennt mit den eigenen Hoffnungen, Ängsten, der Müdigkeit und dem Wunsch nach etwas Ruhe. So individuell die Charaktere, so allgemeingültig ist ihre Entwicklung. Ein Spiegelbild dieser östlichen Gesellschaft. Etwas Wehmut ist erlaubt, Larmoyanz kommt dank der Leute und Voigts häufigem Figurenwechsel nicht auf.

Kaleidoskopartig wird nach wenigen Minuten auf die nächste Person umgeblendet. Das schafft Kontrapunkte. Dazu montiert Voigt immer wieder die früheren gegen die heutigen Aufnahmen, was durch den Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe wunderbar aufgeht und den Verzicht auf erklärenden Kommentar oder Untertitel ermöglicht. "Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen dem Früher und Heute, aus dem Anspruch und der Realität heute, einem wirklichen Konflikt also, entsteht die Wirkung."

Voigt ist ein sanfter Frager, der zwar hinterfragt, aber nicht insistiert. Wie im Spiel wirft er seinem Gegenüber einen Ball zu, den dieser fängt und mehrfach zurückwirft. Wie dies gelingt, beschreibt er so: "Sie (die Protagonisten - d.A.) lassen sich nicht darauf vorbereiten. Diesen Moment der Intensität müssen wir erzeugen. Das heißt, wir müssen eine Stimmung schaffen, eine Situation. Man muß sich so genau kennen, daß man alles miteinander machen kann und sich alles sagen kann. Man darf sich verdammt nochmal nicht so genau kennen, daß man sich nichts mehr zu sagen hat. Und das ist so diese Gratwanderung. Dabei kann man im richtigen Leben abstürzen und im Film eben auch. Du gibst ja auch etwas von dir selbst - nicht bloß in den Film hinein, sondern auch in die Beziehung zu jemandem, der vor der Kamera steht. Dadurch entsteht mitunter ein sehr persönliches Verhältnis, in dem der andere auch viel von mir selbst erfährt und spürt, daß ich mit ihm auf einer Ebene kommunizieren will."

Immer wieder fragt Voigt nach den Träumen seiner Filmpartner. Kaum jemand weicht ihm dabei aus. Selbst die pragmatischer Veranlagten lassen sich auf dies unentdeckte Land ein. Warum? "Es gibt nicht so viele Dinge im Leben, die einen wirklich vorantreiben . Das ist die Liebe und das sind Hoffnungen und das ist Gleichgültigkeit sicher auch. Leben und Sterben, ganz pathetisch ausgedrückt. Und die Träume gehören dazu, und deswegen reizt es mich auch immer wieder zu erfahren, wie andere damit umgehen. Andererseits ist es auch die Art und Weise, wie ich anderen eine Frage stelle. Mich interessieren nicht so sehr konkrete, also faktologische Dinge, die teilen sich am Rande ohnehin mit, sondern mich interessieren viel stärker sich entwickelnde oder vorhandene Beziehungen und Gefühle."

Es gibt nicht so viele Dinge im Leben, die einen wirklich vorantreiben

Was die Filme von Andreas Voigt ausmacht, ist die Nähe zu den Menschen, seinen Helden. Kurze Episoden, intensive Begegnungen, bildliche Metaphern. Es ist auch die Zeit, die er dem Betrachter dafür gewährt. Und es ist die Komposition all dieser Segmente. Die Filme wirken rund. Mit dem letzten Puzzleteil ist auch die letzte Lücke geschlossen. Solches Arbeiten erfordert Strategie. "Beim Filmemachen gibt es immer beides: eine Konzeption, einen Plan, und dann gibt´s Zufälliges. Die Konzeption ist vielleicht am besten so zu umschreiben, daß zu Beginn eines Filmes hinter einer Tür oder einem Fenster ein ganz großes weites, freies Feld ist, das man nicht kennt oder worüber man wenig weiß. Man beginnt, sich darin zu bewegen und markiert sich irgendwelche Punkte in dieser weiten Landschaft. Sie muß groß genug sein, damit alle zufälligen Dinge noch mit hineinpassen. Sie darf nicht so groß sein, daß man sich darin verläuft und nie wieder zurückfindet. Dieser Raum muß vorbereitet werden."

Voigt ist einer dieser selten gewordenen Geschichtensammler und Erzähler, denen heutige Medienstrukturen nur noch wenig Platz lassen. Es kostet mehr Kraft jetzt, die eigenen Vorstellungen und Wünsche auf Projekte zu übertragen und erzählenden Dokumentarfilm zu machen. Woraus schöpft man in einer Zeit, deren soziales Gefüge immer brüchiger und das öffentliche Interesse daran immer geringer wird, die Kraft und Hoffnung für sich selbst und die Arbeit als Regisseur? "Was ich ganz spannend finde beim Dokumentarfilm, ist , daß man sich selbst recht gut relativieren kann. Ich empfinde es als ziemlich starkes Privileg, ein Wanderer zwischen den Welten zu sein. Es gibt in einer so hochgradig spezialisierten und arbeitsteilig so organisierten Welt wie unserer kaum noch Möglichkeiten - wir leben in tausend verschiedenen Welten - daß jemand aus der einen Welt in die Welt der anderen geht. Aufgrund meines Berufes kann ich das. Das ist ein wichtiges Motiv fürs Filmemachen, diese Neugier auf sehr konträre Erlebnisse. Indem ich da so hin und her wandere zwischen verschiedenen Welten, sowohl zwischen den verschiedenen sozialen Welten im eigenen Land als auch bei den Filmen, die ich im Ausland gemacht habe, ergeben sich ganz wichtige persönliche Erlebnisse, in denen man sich, seine Lebensansprüche, seine Unzufriedenheit auch mit den Situationen oder anderen Leuten, relativieren kann.

Auf der anderen Seite ist es ganz spannend zu sehen, wie andere Leute, in sehr anderen Lebensumständen, mit anderen Verhaltensweisen auch, wie die in der Lage sind, mit ihren täglichen Problemen fertigzuwerden. Und dieses sich selbst immer wieder Infragestellen und Relativieren hilft mir persönlich sehr, über bestimmte Dinge hinwegzukommen."

Gerade fertiggeworden ist Voigt mit einem halbstündigen Beitrag für die 3Sat-Reihe "Fremde Kinder". Gedreht hat er vor Weihnachten in einem kurdischen Flüchtlingslager nahe Athen (Ausstrahlung am 18.März, 21.30 Uhr). Größere Projekte sind zunächst nicht geplant. Ein schon ziemlich konkreter Wunsch Voigts ist die Hinwendung zum Theater. Die Lebensgeschichte eines jüdischen Schauspielers in England hat er in der 1995 fertiggestellten TV-Dokumentation "Mr. Behrmann" verarbeitet. Der Stoff eröffne ihm aber viel mehr Möglichkeiten der Bearbeitung, so Voigt.

Auch die persönlichen Wünsche und Träume sind recht konkret: "Der eine Traum ist schon ziemlich alt: Ich möchte gerne mal den Highway No. One runterfahren mit dem Auto. Der andere Traum hat auch was mit Reisen zu tun. Ich war 1996 dreimal in Indien, zweimal für den Film und einmal - das war so der erste Zugang - eingeladen vom Goethe-Institut, um ein Seminar abzuhalten.

Also ich würde gern nochmal nach Indien gehen für eine Zeitlang, ein paar Monate, um mich da umzuschauen, weil mich das Land einfach sehr fasziniert hat."

Berit Wich-Heiter

Die Zitate entstammen einem Gespräch, das die Autorin am 21. Januar 1998 mit Andreas Voigt führte.

"Große weite Welt" läuft ab 12. März im Toni (Premiere)/Tonino und in den Hackeschen Höfen, ab 19. im Moviemento und ab 26. im Acud.

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