Ausgabe 05 - 1998berliner stadtzeitung
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Kippt die neue A-Klasse?

Diese Arbeitslosen! Jetzt fangen sie auch noch an zu demonstrieren. 500 von ihnen stehen herum vor dem Landesarbeitsamt in der Friedrichstraße und lassen sich interviewen. Menschen, die noch nie demonstrierten, mit Hornbrille und Koteletten gar, werden vorzugsweise von den Kamerateams umlagert.

Neben dem vergitterten Tor, auf dem flachgetrampelten Blumenkübel, da werden kämpferische Reden geschwungen. Betroffene für Betroffene. Da stehen keine Politiker: Die Politik hat hier verschissen. Die A-Klasse hofft auf Gerhard Schröder bzw. die Weltrevolution, wenn sie noch Hoffnung haben.

Männer aus dem Volke sind es, die zu den Arbeitslosen sprechen.

Ein Arzt aus Wilmersdorf spricht: "Als Arzt, meine Damen und Herren, liebe Arbeitslose (ich weiß nicht, ob Sie sich an den Witz erinnern: Meine Damen und Herren, liebe Neger, Lübke war das), als Arzt lautet meine Diagnose: Die Arbeitslosigkeit ist ein lähmendes Krebsgeschwür, es muß etwas geschehen, sonst stirbt diese Gesellschaft. - Da gibt es nun verschiedene Möglichkeiten: Die einen sagen: Herausschneiden, die anderen plädieren für Elektroschock oder Chemotherapie (verabreicht möglicherweise über das Trinkwasser)."

Die Arbeitslosen begannen zu murren. Jetzt standen sie schon auf der Straße - immerhin auf ihrer eigenen Demo - und mußten sich solche Sachen sagen lassen.

Als Nächstes betrat, als Vertreter der Kultur und des Unternehmertums, Herr Dussmann, Besitzer des Kulturkaufhauses, den Kübel: "Arbeitslose. Männer und Frauen. Wohlstandsmüll. Ich wende mich an jeden einzelnen von Euch: Willst du einen Job? 60 Mark Stundenlohn? - Hier putz meine Schuhe, kriegst 5 Mark. - Keiner? - Na dann ..."

Jetzt waren die Arbeitslosen wütend. Aus der Masse drängte sich ein Mann nach vorn: Es war Herbert Krüger, Kraftfahrer aus Reinickendorf, den die Historiker den deutschen Lech Walesa nennen werden.

"Ich war auch lange arbeitslos. Ich weiß, wie das ist, um 12.30 Uhr Matlock auf Pro 7 zu sehen und um 15.00 Uhr Raumschiff Enterprise auf Sat 1."

Ja, das mußten die Arbeitslosen zugeben, das war schon schön. Obwohl jeder natürlich nur für sich sprechen konnte, schmerzlich waren sie sich ihrer Entsolidarisierung bewußt.

"Schmerzlich sind wir uns unserer Entsolidarisierung bewußt", sagte Herbert Krüger, die Arbeitslosen fühlten sich verstanden.

"Ich möchte nun meine Forderungen bekanntgeben." Er war der einzige, der Forderungen mitgebracht hatte. In diesem Moment begannen die Arbeitslosen, ihm zu folgen. Er holte einen zerknitterten A4-Bogen aus der Jackentasche und las:

"1. Autos von Arbeitslosen brauchen keinen Tüv.
2. In der Videothek zahlen Arbeitslose halbe Preise.
3. Gegen Vorlage einer Arbeitslosenbescheinigung erhalten wir ein kostenloses Funktelefon."

Beifall brandete auf. Dieser Mann sprach ihnen aus der Seele. Hier war ein Anfang gemacht. Weitere Forderungen konnte man immer noch stellen, insbesondere âmehr Geld´ - aber verstand sich das nicht von selbst?

"Zur Zeit," ergriff Herbert Krüger erneut das Wort, "zur Zeit bin ich im Wachschutz beschäftigt. Und hier habe ich eins gelernt: Wenn die da oben Ruhe und Ordnung haben wollen, dann müssen sie dafür bezahlen. Indem wir nicht randalieren, erbringen wir eine Dienstleistung, die anständig bezahlt werden muß. - Was können wir tun? Nun, wir könnten anfangen zu arbeiten. Wir können Löcher in die Straße graben, Reifenwechsel durchführen, Telekom-Kästen öffnen und die Leitungen neu verlegen, Notbremsen auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüfen, usw. - Wenn nicht bald etwas geschieht, dann fangen wir an zu arbeiten."

Na, das waren ja schöne Aussichten, dachten sich die Arbeitslosen, und am Rande der Veranstaltung bekam Herr Dussmann auch noch seine Schuhe geputzt.

Hans Duschke

Bov Bjerg merkt an: Gleichzeitig demonstrieren Gewerkschaftsvertreter an anderer Stelle der Stadt: Spalten hieß für sie das Gebot der Stunde.

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