Ausgabe 04 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Rehabilitierung der Platte

Vom Abriß zur Salonfähigkeit - In die Debatte um die Plattenbaugroßsiedlungen zieht allmählich mehr Realismus ein. Über die Hälfte der Ostberliner lebt im Plattenbau.

Teil 1

Eher unmerklich hat sich die Wahrnehmung gewandelt. Der einstmalige Abrißkandidat wird plötzlich "salonfähig", wie ein Tagesspiegel-Kommentator das nennt. Plötzlich verschaffen ausgerechnet die ungeliebten Plattenbauten Berlin ein Stückchen Positiv-Image. Berlin - eine Metropole wenigstens der Platte? Jedenfalls konnte Bausenator Jürgen Klemann stolz von Berlin "als Ost-West-Kompetenzzentrum" sprechen, als er Mitte Februar den dreitägigen internationalen "Plattenbaukongreß" eröffnete. 400 Teilnehmer aus Berlin, den neuen Bundesländern und 19 mittel- und osteuropäischen Staaten verabschiedeten zum Schluß eine "Berliner Erklärung", in der an die Regierungen und die EU appelliert wurde, finanzielle Hilfe für die Plattenbausanierung zur Verfügung zu stellen. Die oft dringend notwendige Sanierung sei auch "ein wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung der demokratischen Verhältnisse". Dieser Satz klingt weniger pathetisch, hält man sich vor Augen, daß in Osteuropa mehr als 170 Millionen Menschen in Plattenbaugroßsiedlungen leben.

Zwar war die Presseresonanz auf den Kongreß eher mager, aber das von der Senatsbauverwaltung herausgegebene Magazin "Foyer" widmete dem Thema zu diesem Anlaß gleich ein Heft. Darin schreibt eine Mitarbeiterin der Senatsbauverwaltung unter der Überschrift "Arbeitspaket für Europa": "In fast allen Städten beziehen sich Stadterneuerung und Stadtentwicklung aus leicht nachvollziehbaren Gründen auf die Wiedergewinnung der Innenstädte, auf die Sanierung noch erhaltener Altbausubstanz und die kommerzielle Entwicklung der Zentren. Doch die Mehrzahl der Menschen in den Städten wohnt in den großen Plattenbaubeständen am Stadtrand. Der Erhalt und die Qualifizierung ihrer Wohnung und ihres Hauses, die Stabilität und die funktionale Entwicklung ihres Stadtteils werden darüber entscheiden, ob die mittel- und osteuropäischen Städte zerfallen: in stabile Stadtteile für die wenigen Reichen und großdimensionierte Problemstädte - mit den sich daraus ergebenden vielfältigen Destabilisierungsprozessen für die Gesellschaften selbst, aber auch mit Auswirkungen auf den europäischen Friedensprozeß."

Kurz umreißt die Autorin die Überlegungen, die in den Jahren zuvor die Platte verfolgt hatten: "Abriß und Neubau für bis zu 170 Millionen Menschen? Undenkbar und unwirtschaftlich. âAuswohnen´ und schrittweise ersetzen? Gesamtgesellschaftlich gefährlich, unwirtschaftlich und nicht handhabbar, weil die massenhafte, gleichzeitige Erstellung zu massenhaftem, gleichzeitigem Verfall führen wird."

An Abriß war auch bei den Plattensiedlungen im Ostteil Berlins nach 1990 tatsächlich gedacht worden. War man mit der Sanierung von Neubausiedlungen in Westberlin, des Märkischen Viertels beispielsweise, schon zu freundlicheren Erkenntnissen gekommen, so brach mit dem Mauerfall auch wieder das gesammelte Grauen ein. Es galt einem Subjekt, das mehrere Namen hatte: Zum einen hieß es Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen - die in den 70er und 80er Jahren entstandenen Plattengroßsiedlungen am Rand der Stadt. Außerdem hieß es aber auch Karl-Marx-Allee 2. Bauabschnitt, Greifswalder Straße etc. - kleinere Plattenbauviertel im innerstädtischen Bereich.

Die Stadt- und Landschaftsplanerin Susanne Jahn vom Büro AGS, die sich u.a. mit der Wohnumfeldgestaltung in Buch befaßt hatte und für den Bezirk Mitte die Bereichsentwicklungsplanung entwikkelte, erinnert sich an die Abrißideen. "Es hätte damals auch in der Innenstadt Gutachten gebraucht, in der Karl-Marx-Allee, auf der Fischerinsel, im Heinrich-Heine-Viertel, in der Leipziger Straße ... Das wurde aber zumindest für die Leipziger Straße und die Fischerinsel nicht gemacht, weil ab 1990 im Überschwang diese Vorstellung kam: Wir machen das alles wieder wie früher. Alles war möglich, da war noch die Rede davon, alles abzureißen. Wir erarbeiteten damals die Grundlagen für die Bereichsentwicklungsplanung und versuchten zu argumentieren: daß da doch Leute wohnen, und zwar nicht wenige, und wer denn das machen soll. Aber am Anfang hieß es nur: Wer will denn diese Dinger modernisieren, das wollen wir alles nicht haben."

Die Platte, das große BAH. Legendenbildung ohne Ende: ganze Heerscharen von Journalisten wußten Bescheid, ohne auch nur genauer hingeschaut zu haben: Ghetto, Verwahrlosung, Kriminalität, Anonymität. Die Platte bekam ihr Image verpaßt. Wie ein Image gebaut wird, beschrieb der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp in einem scheinschlag-Interview so:

"Das typische Klischee ist Marzahn. Meine Schwiegereltern wohnen im Süden in einem Neubaublock und waren bisher zufrieden. Nun wohnen aber die Journalisten nicht dort, die darüber berichten. Sie kommen mit den Bildern von Neubauvierteln westdeutscher Städte und sagen: Ja, haben Sie denn hier keine Angst? Die Schwiegermutter liest sowas zwei-, dreimal in der Zeitung, dann sagt sie: Da muß man ja eigentlich Angst haben.

Man bricht die soziale Mischung bewußt auf, indem man ausdrückt, jemand, der noch eine feste Arbeit und einen guten Verdienst hat, könne doch nicht in Marzahn wohnen. Das ist ein Klischee, ein kulturelles Werturteil, das nicht gewonnen wurde durch Besichtigung oder Untersuchungen über die Wohnzufriedenheit in den Siedlungen. Ich will damit nicht sagen, daß es die beste aller Siedlungen ist. Meine Überraschung setzte ein, als ich das erste Mal im Gropiusviertel war. Da dachte ich, hier ist richtiger Sozialismus. Ein Gemeinschaftshaus, ein gemeinsames Waschhaus, kleine Geschäfte ... Über meine Mitteilung: ´Das sieht ja hier aus wie in Marzahn´ waren die Wessis völlig erschrocken. Weil sie ja noch nie in Marzahn waren, sie haben nur ein Bild von Marzahn."

Und noch Ende 1997 steuerte der Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann, jetzt Staatsekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, öffentlich eine profunde soziologische Erkenntnis bei: "Die Ossis mußten doch alle in den großen Blöcken wohnen, und dann hatten sie ihre verdammten Datschen - das ist doch abartig. Nicht die Innenstadt, sondern die Peripherie ist familienfeindlich."

Auf solche Attacken reagierten die Bewohner der großen Blöcke - immerhin 3/5 der Ostler leben in der Platte - allergisch, was teilweise zu kuriosen Ausläufern der Debatte, zum Beispiel zu einem Begriffsstreit führte. Mathias Wedel zitiert in einem Artikel über die Platte einen Leserbrief in der âBerliner Zeitung´: "Wenn Ihnen Ostkollegen sagen, daß Plattenbau schon früher gebraucht wurde, ist das falsch. Wir haben in diesem Zusammenhang nur von ´Neubau´ gesprochen. Das hämische ´Die Platte´ ist eine Erfindung der Westberichterstattung. Die Wohnungen waren nicht so schlecht, und die meisten Leute wollten sie auch haben. Vor allem waren sie aber bezahlbar! Das Äußere dieser Wohnblocks war leider nicht sehr attraktiv, und das mag Ihnen als Wessi dabei das wichtigste sein, ist doch eine schillernde Fassade für sie notwendiger als ein guter Inhalt."

Längst waren zu diesem Zeitpunkt Befragungen, Erhebungen, Studien zu anderen Ergebnissen als Stimmann gekommen: Marzahn beispielsweise (150 000 Einwohner in 58 500 Wohnungen) wurde eine eher junge Bevölkerung (Durchschnittsalter 34 Jahre) bescheinigt, eine geringere Arbeitslosenquote als in westdeutschen Städten wie Hannover oder Bremen, eine höhere Geburtenrate als in anderen Berliner Bezirken, ein vergleichweise hoher Anteil von Gutverdienern und eine hohe Gebietsbindung: ca. 80% gaben an, sich in Marzahn wohlzufühlen. Über den abartigen Plattenbau-Ostler schrieb Mathias Wedel in einem Beitrag: "Die Leute denken gar nicht daran, sich hinaus in die Freiheit zu begeben. Die in den Augen westdeutscher Städteplaner entwürdigenden Verhältnisse finden sie gemütlich und anheimelnd ... Im übrigen bleibt man weitgehend von Westlern verschont. Die Frage ´Wohnen hier auch keine Westler?´ wird für Wohnungssuchende immer öfter ein Kriterium, etwa wie man fragt, ob die Bude auch ein Fenster nach Süden hat."

Das mag übertrieben klingen. Tatsächlich kursierte unter Hellersdorfern der Witz, was das Schönste am Bezirk sei. Die Antwort: Hierher kommt kein Wessi. Was u.a. darauf anspielte, daß die Plattenbauviertel rückübertragungsfreie Zonen waren und unattraktiv für Spekulation. Damit hätte das Land Berlin gerade in diesen Gebieten über die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ein Instrument in der Hand, zum Beispiel den Wegzug ins Umland zu verhindern. Aber genau das wird offenbar nicht genutzt: In einem soziologischen Gutachten über die sozialräumlichen Veränderungen Berlins seit 1990 nennt Prof. Hartmut Häußermann als Wegzugsgrund in den Plattenbauten Ost vor allem hohe Mieten - ab einer bestimmten Höhe rechnen sich Besserverdienende aus, daß sie auf die Dauer mit Wohneigentum besser fahren.

Problemviertel, so Wedel, entwickeln sich eher dort, wo die Großsiedlungen um Großbetriebe hochgezogen worden waren und die Deindustrialisierung ganzen Stadtvierteln ihre existentielle Basis entzog. In den Plattenbaugebieten Ostberlins bemängeln die Bewohner eher die Infrastruktur: Die liebevoll "Freß- und Dienstleistungswürfel" getauften Quader mit Blumenladen, Post, Jugendclub, Friseur, Zeitungsladen einerseits und Großgaststätte andererseits bildeten so etwas wie die Kerne der Viertel. Nach der Wende treuhandverwaltet, schlossen Clubs, wurden aus den Gaststätten obskure Sammelsurien von Billiganbietern. Manche Würfel wurden inzwischen abgerissen, einige mühevoll als Wohngebietszentrum reanimiert (mehr darüber in Teil 2). In die Kaufhallen zogen Großmärkte wie Kaiser´s ein, die aufgrund mangelnder Einkaufsalternativen und der Monopolstellung im Gebiet nicht selten überhöhte Preise haben.

Ulrike Steglich

Parallel zum Plattenbaukongreß zeigt eine Ausstellung der Senatsbauverwaltung die Ergebnisse der bisherigen Plattenbausanierungen.
Noch bis 15. März ist sie im Berlin-Pavillon an der Straße des 17. Juni (S-Bhf. Tiergarten) zu sehen.
Teil 2 des Artikels wird sich mit Plattenbausanierung und dem Gestaltungsstreit beschäftigen und erscheint in einer der nächsten Ausgaben.

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