Ausgabe 04 - 1998berliner stadtzeitung
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Begrabt den Plan an der Biegung des Flusses

Mit dem Stop des Bebauungsplans um den Lehrter Zentralbahnhof aufgrund des mangelnden Investoreninteresses stirbt ein weiteres Fossil der Hauptstadtplanung

Die nüchternen Berliner Realitäten ließen Mitte Februar die Planung für eines der zentralen baulichen Großprojekte Berlins platzen: für einen neuen Stadtteil auf 30 Hektar rund um den neuen Lehrter Zentralbahnhof nach dem Wettbewerbsentwurf von Oswald Mathias Ungers. Hier wollte die Deutsche Bahn AG gemeinsam mit Investoren zwei Wohnquartiere nördlich und südwestlich des neuen Bahnhofs errichten. Auf dem geplanten südlichen Bahnhofsvorplatz sollte ein Hotel entstehen, auf dem nördlichen Vorplatz ein Hochhaus für Büro und Dienstleistungen. Nördlich des Bahnhofs sollte die Invalidenstraße achtspurig ausgebaut werden, südlich eine neue "Spreeuferstraße" vierspurig eingerichtet werden. Vorgesehen war außerdem der Bau einer Tiefgarage mit 1200 Stellplätzen.

Kein Investoreninteresse

Allein: Die Investoren winkten ab. Bausenator Jürgen Klemann (CDU) gab deshalb Mitte Februar im Bauausschuß bekannt, daß der Bebauungsplan für das Gebiet so nicht mehr weiterverfolgt wird. Stattdessen solle das Gebiet in Teilbebauungsplänen weiter entwickelt werden - vor allem im "engeren Bahnhofsbereich", um den Bahnhofsbau voranzutreiben, an dem "leider nichts mehr zu ändern ist", wie Ida Schillen bedauert. Die baupolitische Sprecherin der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus erhofft sich aber durch die Investorenflaute wenigstens eine Schadensbegrenzung für die Bahnhofsumgebung. Nun müsse man aufgrund veränderter Bedingungen ein Konzept für das Gebiet im Grunde völlig neu denken. Andererseits hat sie aber auch die Befürchtung, daß es "beim Bau des Bahnhofs bleibt" und an den Straßensituationen wie im Norden nichts geändert würde.

Vor allem für die geplanten Wohnquartiere konnten keine Investoren gefunden werden - gleiches gilt auch für das Gelände des ehemaligen Stadions der Weltjugend oder für das Entwicklungsgebiet "Alter Schlachthof" an der Eldenaer Straße. "Der Bedarf an freifinanzierten Wohnungen ist momentan einfach nicht vorhanden", kommentiert Schillen. Aber angesichts der enormen öffentlichen Erschließungskosten für Straßen und Wohnungsbau könne man nur froh sein, daß es keine Investoren gibt. Darüberhinaus sei die Planung der Gebiete unglücklich: eines war direkt neben der Ausfahrt des Nord-Süd-Tunnels vorgesehen, der unter dem Bahnhof durchgeführt werden soll. Keine geräuscharme Kulisse also mit einem Bahnhof in der Nähe, dem Tunnelausgang und zwei mehrspurigen Straßen. Eigentlich müsse es ein völlig neues Konzept geben, in dem der Wohnungsbau in emissionsarme Bereiche verlagert werde. Zum Beispiel in den Bereich südwestlich des Bahnhofs - aber auch nur dann, wenn auf den Bau der vierspurigen Spreeuferstraße verzichtet würde.

Die Verkehrsplanung wird von den Bündnisgrünen insgesamt kritisiert. Die Spreeuferstraße sei völlig überflüssig, sie werde noch mehr Verkehr in der Innenstadt erzeugen und zerstöre darüber hinaus die Uferpromenadensituation am Humboldthafen. Genauso "katastrophal" sei die Planung für den Bereich nördlich des Bahnhofs. Der achtspurige Ausbau der Invalidenstraße widerspreche dem Vorsatz, den öffentlichen Nahverkehr zu stärken. Diejenigen, die mit der Straßenbahn oder dem Bus zum Bahnhof gelangen, müßten dann die acht Spuren überqueren. Angesichts der 1200 Tiefgaragenplätze sei zu befürchten, daß das "eine reine Autoabstellanlage wird", nicht aber ein Bahnhof mit Angeboten und Service für Reisende ohne Auto. "Während man in anderen Städten wie in Düsseldorf oder London mit viel Aufwand den Individualaufwand aus dem Bahnhofsbereich herausdrängt, geht Berlin genau umgekehrt vor." Gefordert wird deshalb ein Verkehrskonzept, das den Autoverkehr völlig aus dem Bereich heraushält.

Wahnsinnsprognosen der Nachwendezeit überholt

Auch die geplanten Nutzungen sollten überprüft werden. Es sei mehr als fraglich, ob die geplanten Dienstleistungs- und Büroflächen vermarktungsfähig seien. Aber "der Senat hat sich geweigert, hier eine Einzelhandelsstudie machen zu lassen." Ida Schillen befürchtet, daß mit einer Zentrenentwicklung in diesem Gebiet der Einzelhandel in der Turmstraße oder im Wedding massiv angegriffen wird. Zusätzlich zu den Verkaufsflächen, die in den beiden Riegeln über dem Bahnhof vorgesehen sind, sollte auch der Solitär auf dem nördlichen Vorplatz Gewerbe- und Dienstleistungsflächen bieten. Eine überkommene Planung, die noch auf den Wahnsinnsprognosen der unmittelbaren Nachwendezeit basiere, so Schillen. Die Bebauung der Vorplätze mit je einem Solitär sei auch städtebaulich unglücklich und zerstöre die Platzsituation. Ein Hotel könnte auch im westlichen Bereich geplant werden. Sie bezweifelt, daß sich hier noch ein neues Einkaufszentrum erschließen läßt. Statt einem "Kaufhaus mit Gleisanschluß" könnte man ein Nutzungskonzept entwickeln, nach dem Nutzungen nur bis zu einem bestimmten Flächenbedarf zugelassen sind, um kleinteilige Strukturen zu sichern. Ließe man auf dem Bahnhofsgelände nur Bahnhofs- und Servicebetriebe zu, könnte die Konkurrenz zu benachbarten Einzelhandelszentren vermindert werden. Der Humboldthafen schließlich solle als Grünbereich ohne jegliche Bebauung ausgebaut werden, Lärmemissionen unmittelbar an der Bahntrasse seien unzumutbar. Die bisherige Planung sei "klimatisch und städtebaulich eine Katastrophe".

Nicht nur die Bündnisgrünen, sondern auch die Stadtteilinitiativen "Lehrter Straße" und "Moabiter Ratschlag" sehen den Stop des Verfahrens als Chance für eine neue Diskussion über die Planung der Bahnhofsumgebung. Ob allerdings das Umdenken auch soweit reicht, die Straßenspuren zu reduzieren, prognostiziert Schillen eher skeptisch: "Also unter diesem Senat nicht."

Ulrike Steglich

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