Ausgabe 04 - 1998berliner stadtzeitung
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"Nicht wesentlich über 30 Jahre"

Viele Bildungsträger schulten seit der Wende viele Leute auf "neue Medien" um - mit welcher Aussicht?

Bis auf das vertraute Klicken ist es still im Raum. Es hört sich an wie ein Großraumbüro mit sehr, sehr fleißigen Sekretärinnen vor sehr, sehr leisen Schreibmaschinen. Fünfzehn Rechner summen, fünfzehn Hände an fünfzehn Mäusen klicken sich durch ein Computer-Programm. So also klingt Zukunft. Fünfzehn Leute absolvieren einen Kurs, dessen Zertifikat die Eintrittskarte für den Arbeitsmarkt sein soll, aus dem sie vor mehr oder weniger langer Zeit rausgeflogen sind. Es ist ein Kurs von vielen bei diesem Bildungsträger. Nach der Wende hat es im Osten einen Boom von Bildungsträgern gegeben. Sie boten Umschulungen und Fortbildungen an, die Stichworte hießen Computer, Telekommunikation, Multimedia. Desktop Publishing, Internet, Screen Design.

Die "Dienstleistungsmetropole" als Hoffnungsträger angesichts eines rasanten Deindustrialisierungsprozesses, bei dem binnen weniger Jahre 350 000 Arbeitsplätze schlicht verschwanden. "Mit Dienstleistungen in die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts" lautete der Titel eines Kongresses, der Ende letzten Jahres, kurz vor der debis-Eröffnung am Potsdamer Platz, im Berliner Abgeordnetenhaus tagte. Umschulung bei Arbeitslosigkeit ...

In den vom Arbeitsamt finanziertenTageskursen des Bildungsträgers werden Arbeitslose umgeschult: Reprotechniker, Drucker, Graphiker oder Setzer, deren Betriebe pleite gemacht haben oder deren Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde (weil traditionelle Bereiche durch neue Technik ersetzt werden), lernen nun die neue Technik - mit mehr oder weniger Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz. In den Kursen sitzen ganz Junge oder Ältere, Ostler und Westler, mit oder ohne Vorkenntnis. Es ist wie ein Mikrokosmos des "Arbeitsmarktes". Manche sind agil, wißbegierig, offensiv, selbstbewußt. Anderen merkt man eine depressive, resignierte Passivität an. Das ist weniger altersabhängig - auffällig ist, daß die Frauen häufiger und lebhafter fragen als Männer.

Zur Fortbildung gehört ein Praktikum, das die Kursteilnehmer bei unterschiedlichen Firmen absolvieren. An der Tafel hängt ein neues Angebot: Vorstellungstermin bei einer Designfirma zur Praktikumsbewerbung. Bedingung der Firma: "Nicht wesentlich über dreißig Jahre". Für ein sechswöchiges, vom Arbeitsamt finanziertes Praktikum. Fast alle im Kurs sind über dreißig. Viele "wesentlich". Facharbeiter mit solider Berufserfahrung. Aber irgendwie fehl bei jungen, dynamischen, creativen Teams in der Werbebranche. Für andere Betriebe ist ein Führerschein Bedingung. Nachtigall. Wozu braucht man zum Computer einen Führerschein. Nicht mehr alle haben das Selbstbewußtsein, sich über solche Angebote zu mokieren.

Den verlorengegangenen Stellen stehen in der Regel nur wenig neue gegenüber. Die Quote derer, die nach dem Praktikum tatsächlich auch in dem Betrieb angestellt werden, ist niedrig. Statt Festanstellungen ist es in dieser Branche eher üblich, daß "Freie" projektbezogen auf Honorarbasis beschäftigt werden. Eine Scheinselbständigkeit, bei der die "Freien" über keinen eigenen Kundenkreis verfügen, nach wie vor auf die Firmen angewiesen sind, dabei aber Versicherungen und auch Arbeitsgeräte - beispielsweise eine Computeranlage - selbst finanzieren müssen.

Trotzdem wollen sich nicht wenige aus dem Kurs selbständig machen: Die Flucht nach vorn aus einem immer enger werdenden Stellenmarkt. 65% aller Existenzgründer gehen in den ersten drei Jahren wieder pleite.

Fortbildung bei Berufstätigkeit

Die Abendkurse, Fortbildung für Berufstätige in denselben Disziplinen, bilden das Gegenstück. Meist sind sie sehr still, die Leute sind nach einem Arbeitstag kaputt, ausgelaugt und offenbar ganz froh, ohne Druck die Übungen am Bildschirm durchzuarbeiten. Eine Frau kommt öfter zu spät, abgehetzt, müde. Ihr Arbeitgeber verlangt Flexibilität und Überstunden, wenn viel Arbeit ansteht. Auch an den Tagen, an denen die Fortbildung stattfindet, die der Arbeitgeber finanziert. Möglichst wenig Mitarbeiter sollen möglichst fit für möglichst viele unterschiedliche Anforderungen sein. Statt für den einen aus dem Tageskurs eine zusätzliche Stelle einzurichten, muß der andere aus dem Abendkurs die eierlegende Wollmilchsau geben, neben Bildbearbeitung und Gestaltung auch noch das Internetkonzept entwerfen und sich möglichst irgendwie selbst in die Aufgaben einarbeiten. Auch an Schulungen wird meist gespart.

Ein anderer hat drei Jahre lang in einem ABM-Betrieb Satz, Gestaltung, Bildbearbeitung, Belichtung, Druck gemacht. Inzwischen gibt es einen ansehnlichen Pool an der notwendigen Technik, finanziert aus Sachmitteln. Der Betrieb will sich als GmbH ausgründen. Macht drei neue Arbeitsplätze.

Der Inhaber einer Druckerei, ein kleiner mittelständischer Familienbetrieb mit zehn Angestellten, kann sich darüber weniger freuen. Solche Betriebe hatten angesichts neuer Technik wie Digitaldruck ohnehin zu kämpfen. "Staatlich subventionierte Konkurrenz" nennt er die ABM-Ausgründungen, die über drei, vier Jahre mit Dumpingangeboten den kleineren Gewerbebetrieben das Wasser abgegraben, die Kunden abgeluchst und die Preise verdorben hätten. Es gibt keine Statistik, wieviel Arbeitsplätze solche Marktkonkurrenz bisher gekostet hat.

Zukunftsgeräusch Mausklicken. Jeder Kurs gibt dem Arbeitsmarkt einerseits und den Arbeitslosenzahlen andererseits Gesichter. Noch bevor der nächste Kurs mit den neuen Gesichtern kommt, sind sie vertrauter, als es einem lieb ist. Es gibt auch keine Statistik, wie viele Leute in wie vielen Kursen seit 1990 auf die Neue Medien-Dienstleistungshoffnung umgeschult worden sind. Die Erwartung neuer (Dienstleistungs-)Arbeitsplätze durch den Regierungsumzug hat sich inzwischen von euphorischen 700 000 auf 40 000 reduziert. Nimmt man die Kurse als (ganz unwissenschaftliche) Beobachtung, dann ist das Verhältnis von weggebrochenen Arbeitsplätzen in dieser Branche und neuen Stellen ein Nullsummenspiel. Bestenfalls.

Sascha Sauer-Wald

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