Ausgabe 03 - 1998berliner stadtzeitung
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Dünne Besetzung

Der 1. Aktionstag gegen Arbeitslosigkeit am 5. Februar in Berlin.

Am Vortag meldete die Presse einen Gesamtberliner Nachkriegsrekord. Es gebe nun rund 290 000 Arbeitslose in der Stadt. Die hatten, so scheint es, wohl mehrheitlich ein Problem mit der Kälte oder mit dem Wecker. Bis 10 Uhr waren gerade mal 2000 Leute dem Aufruf des DGB und verschiedener Initiativen gefolgt, sich vor dem Landesarbeitsamt in Kreuzberg einzufinden, um gegen ihr Schicksal im allgemeinen und das neue "Arbeitsförderungsgesetz" im besonderen zu protestieren. "Det kennen wir doch schon von 33", orakelt ein gepflegter Senior mit finsterer Miene, der das Geschehen aus sicherer Distanz beobachtet. "Bei 6 Millionen geht´s dann wieder los". Was einstweilen losging, waren die Auslöser zahlreicher Kameras, denn zumindest die Vertreter der Journaille waren geschlossen angetreten, um des Volkes Zorn zu dokumentieren. Bereits in den frühen Morgenstunden war es zu symbolischen Aktionen vor und in diversen Arbeitsämtern gekommen. "In Neukölln sind wir reinmarschiert", war zu vernehmen "...in Marzahn hat´s auch geklappt." Das Auffälligste an dem Zug, der sich später gen "Rotes Rathaus" in Bewegung setzte, war die Zusammensetzung der Teilnehmer. Die Mehrheit stellten "normale Leute" in unauffälliger Straßenkleidung, eher zurückhaltend und offenkundig ohne Demonstrationsroutine. Entsprechend friedlich war dann auch der Ablauf, so friedlich, daß Demo-Veteranen gar zu unbedarfte Schlenderer einweisen mußten. ("Runter vom Bürgersteig. Das ist hier kein Spaziergang"). Am Ziel kam es schließlich doch zu Rangeleien mit der Polizei, weil einige Arbeitslose den heftigen Drang verspürten, den Regierenden einen spontanen Besuch abzustatten. "Wir sind alle vom Hotel Adlon herzlich zum Frühstück eingeladen", erklärte plötzlich jemand über Lautsprecher, woraufhin sich ein zwar dezimierter, aber sehr hungriger Restaufzug anschickte, dieser Einladung nachzukommen. Am Pariser Platz hatte die Polizei derweil eine solide Wannenburg rund um die Nobelherberge errichtet. Statt Lachshäppchen und Kir Royal gab es dort einzelne, gehässige Ausfälle der Knüppelartisten, wobei es zu den üblichen, grundlosen Festnahmen kam. Letztlich glich der 1. Berliner Aktionstag einer Probeaufführung. Nette Einfälle konnten nicht über den improvisierten Charakter und eine dünne Besetzung hinwegtäuschen. Die geplanten Wiederholungen werden zeigen, ob 288 000 Leute das Problem mit ihrem Wecker doch noch in den Griff kriegen...

J.L.

Gegen falsche Bescheidenheit

Arbeitslose kommen in Bewegung

Letzten Donnerstag kam es anläßlich der Verkündung der Januar-Arbeitslosenzahlen bundesweit zu Protestaktionen vor Arbeitsämtern. Insgesamt waren nach Angaben der Bielefelder "Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen" zwischen 40 000 und 50 000 Menschen auf den Beinen. In Oldenburg und Frankfurt am Main wurden Arbeitsämter besetzt. Warum jetzt? Neue Rekorde sind nicht gerade überraschend.Seit Ende letzten Jahres werden auf den Arbeitsämtern Merkzettel verteilt, auf denen alle Arbeitslosen auf die gesetzlichen Änderungen hingewiesen werden, die seit Anfang Januar in Kraft getreten sind. Unter anderem müssen sich jetzt alle Arbeitslosen einmal im Vierteljahr persönlich beim Arbeitsamt melden und über die "Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes" hinaus eigene Bewerbungsaktivitäten nachweisen. Andernfalls gibt es kein Geld mehr. Wie diese Nachweise auszusehen haben und wieviele vorzulegen sind, ist überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Eine Anerkennung liegt somit im Ermessen der Arbeitsvermittler. Das könnte besonders für unliebsame Arbeitslose zum Problem werden und ist für alle lästig, weil sinnlos. Für Peter Grottian vom "Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest in Berlin" war das auch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat.

Ohne die Massenproteste in Frankreich und das damit geweckte Interesse der Medien allerdings hätte wohl hierzulande niemand die Initiative ergriffen.
Der erste Aufruf zu bundesweiten Protesten - monatlich, zur Bekanntgabe der neuesten Arbeitslosenzahlen - kam Mitte Januar aus Bielefeld von der Koordinierungsstelle der gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen. In den folgenden Wochen haben sich verschiedene unabhängige und kirchliche Gruppen, der ostdeutsche "Arbeitslosenverband Deutschland" und sogar einzelne Parteien sowie Gewerkschaften angeschlossen. Die "Aktionszentren" in Berlin sind für Peter Grottian aber die gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen, der Arbeitslosenverband und das Aktionsbündnis, von dem er sagt, dort hätten sich verschiedene unabhängige Gruppen zusammengeschlossen, die in kritischer Distanz zu den traditionellen Organisationen stünden.

Die Distanz scheint auch angebracht. Bei Gewerkschaften und Arbeitslosenverband drängt sich der Eindruck auf, daß sie vor einer Arbeitslosenbewegung eher Angst haben, als daß sie sie fördern wollten. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes, legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, die Verbände würden versuchen, die Aktionen nicht wie in Frankreich außer Kontrolle geraten zu lassen.

Verschiedene Organisationen bringen auch unterschiedliche Forderungen zustande. Gemeinsam sind ihnen aber die Forderungen nach Rücknahme der seit Januar gültigen Maßnahmen, nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung auf 28 bis 30 Stunden pro Woche und nach einer sozialen Grundsicherung von 1350 bis 1500 Mark plus Warmmiete. Das ist nicht neu. Bereits im Februar 1992 hatten die "Bundesarbeitsgruppen gegen Arbeitslosigkeit und Armut" in ihrer Broschüre "13 Thesen gegen falsche Bescheidenheit" ähnliches formuliert. Besonders die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung ist aber sehr naheliegend angesichts von inzwischen 5,6 Millionen Nicht-sozialversicherungspflichtig Beschäftigten - Tendenz deutlich steigend. Diese würden im Falle einer Arbeitslosigkeit niemals in einer Arbeitslosenstatistik auftauchen, weil sie gar nicht erst den nötigen Anspruch auf Unterstützung erwerben.

Sören Jansen

Das Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest in Berlin trifft sich jeden Montag um 16 Uhr im Haus der Demokratie, Friedrichstraße 165, Raum 310

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