Ausgabe 03 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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o.T.

Wenn eine neue, smarte, cleane Galerie da auftaucht, wo vorher keine war, ist das ein sicheres Zeichen beginnender Gentrification. Im Vorraum findet sich eine filigrane, durchscheinende Skulptur, die aus einer ausgerollten Rolle Tesafilm besteht. Aus dem rückwärtigen Fenster der Galerie kann man dann auch prompt über ein paar ausgebombte Innenhöfe ein rosagestrichenes Hintergebäude eines Hauses in der Bergstraße sehen, das schon längst für feine und neue Mieter aufbereitet worden ist. Ehemalige Slums. Vor siebzig Jahren. Das Fenster ist neu, der Gitterrahmen alt. Auf einem Videoschirm im Hinterraum laufen Bilder, die einen Kran auf Schienen zeigen. Betonfertigteile werden verladen. Man hört Baulärm. Immer wieder fährt ein Gabelstapler oder wie sowas heißt vor und nimmt Teile mit. Der Lärm und die sichtbare Unordnung eines industriellen Komplexes schreit wie eine ferne Wunde in dem falschen Idyll der Galerie. Bauen am Kanaltunnel. Ein alter Film. Inzwischen ist der fertig. Die Züge sehen clean und elegant aus, der Bahnsteig in London ist unter Glas - die Wunde ist weit weg, geschlossen und vernarbt. ASCII Kunstvermittlung möchte Kunst und Business zusammenbringen. Gegensätze. Baulärm und transparenter, stiller und feiner Tesafilm... Kunst als Dekor, der von der intellektuellen, finanziellen und ästhetischen Potenz des Auftraggebers zeugt.

Rankenbewachsene, weiße und rechteckige Balken, die wie eine ornamentale Pergola einen Platz, der fast nur aus einer Straßenkreuzung besteht, umgeben. U-Bahn-Station und Bushaltestelle. Auffallend viele Leute mit große Taschen, Rucksäcken und Koffern. Irgendeine Bank ist da und andere Sachen. Viele Autos. Ein Kiosk. Die eher vorstädtischen Gebäude sind Wirtschaftswunderwerke, eines ist mit rechteckigen weißen Kacheln verkleidet. Triste Praxis praktischen Bauens. Alles an Gebäuden sieht wie achtlos abgestellt aus. Einer der weiten, scheinbar überall gleich nichtssagenden Vorortplätze. Ab und zu donnern Flugzeuge mit ausgeklappten Fahrwerk dicht über den Platz. Sie scheinen fast die Bauten streifen zu wollen. Und dann die strengen, harten und klaren Rechtecke. Die Pergola. Eine geschlossene ästhetische Oberfläche. Ihre postmoderne Masche, klassische reduzierte Ordnung für städtebauliche Nirvanas, ist inzwischen billigste Allerweltsspielerei für Baumärkte und Vorortzentren geworden. Völlig funktionsloses Ornament, das eine überholte Beziehung vorgaukeln soll. Vorortbewohner und Fluggäste, die auf den Bus zum Flughafen warten und von einer diffusen Unruhe geprägt sind. Sie gehören nicht hierher, nur in den Momenten, wo eines der Flugzeuge über den Platz schwebt, sind sie, die Wartenden, die eigentlich hierher gehören, in die Interzone der Reisenden.

Viele Reihen von vier Meter hohen Betonquadern, senkrecht gestellt, mit schmalen, meterbreiten Zwischenräumen, alles rechteckig angeordnet. An einem städtischen Nicht-Ort. Ausgedehnte Interzone der Sprayer! Beton ist eines der Materialien, auf denen gesprühte Farbe besonders dauerhaft haftet. Eddingstifte gehen nicht so gut, ritzen kann man auch. Was natürlich auch einlädt, sind lauschige Gespräche mit Bierbüchsen und Suchspiele von Homosexuellen, die die harte Atmosphäre geil finden werden. Diejenigen, denen dieser Platz gelten soll, konnten mangels Aufnahmestaaten nicht ausreisen. Was werden die Kinder der Überlebenden schlimmer finden, eine ultimativ überwachte Sicherheitszone, die geschaffen wurde, um nicht rein dekorative Kunst zu erhalten oder die langsame Verwandlung des Gedenkens in Graffiti, geritzte Hakenkreuze und Nachrichten (Erna war hier 2004) samt Spermaspuren derer, die hier den Orgasmus suchen?

GMZ

ASCII Kunstvermittlung Ackerstraße. Kurt-Schumacher-Platz. Der Entwurf für das Denkmal für die vernichteten Juden, den der Kanzler favorisiert.

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