Ausgabe 03 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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El Niño - was geht mich das an?

Klaus B. und Robert S., die beiden rothaarigen Rucksacktouristen aus Reutlingen wurden im Schlaf überrascht. "Auf einmal war da ein Wirbelsturm", erinnert sich Robert, "der hat uns voll überrollt. Wir sind natürlich gleich ins Hotel, aber die Klamotten, der Rucksack: alles durchgeweicht." "Klitsche-naß", fällt der stämmige Klaus seinem schmächtigen Reisegefährten ergänzend ins Wort. "So einen Regen gibt`s in Reutlingen nicht." 173 Einheimische (alles Mexikaner) sind tot. Es waren nicht die ersten, es werden nicht die letzten Opfer von El Ni–o gewesen sein.

350 km vor der Westküste Costa Ricas faßt sich Pedro Gonzales im Morgengrauen entschlossen in den Schritt. "Ich werde meine Frau und meine Kinder umbringen, und mich auch." Ruhig und entschlossen steht er auf seinem schwankenden Boot. "Es ist kein Fisch da. Das Wasser ist zu warm." So wie er denken viele Fischer an der Pazifikküste Mittel- und Südamerikas. "Die Menschen sind verzweifelt", weiß auch James P. Woodhouse (53), Staatssekretär im US-Außenhandelsministerium, "und schuld ist nur El Ni–o." Ping Jom Prong (28) ist Taxifahrer in Kuala Lumpur. Seit Wochen fährt er auch bei Tage mit Abblendlicht. Die Orientierung ist nur mit Hilfe der Hupe möglich. Seine 78jährige Großmutter ist gestorben. Sein Sohn (4) hustet. Schon jetzt steigen die Preise für Reis und Soja-Soße auf das fünf- bis achtfache.

Zur gleichen Zeit landet auf dem Züricher Zentralflughafen die Maschine 5678 XY aus Karatschi. Unter den Passagieren befindet sich ein durchtrainierter Mittfünfziger im maßgeschneiderten Zweireiher und dunkler Brille. "Die Verursacher der indonesischen Waldbrände", davon ist Douglas Mitchener (55), Leiter der internationalen Verbrecherbekämpfung überzeugt, "deponieren ihre riesigen Gewinne (Experten sprechen von $ 180 Mio.) auf Schweizer Nummernkonten."

Dr. Wolfram Opitz (42), Chefmeteorologe beim Max-Planck-Institut biß noch einmal in das Butterbrot, daß ihm seine Frau (24) mit italienischer Salami belegt und eingepackt hatte, und schaute dann ungläubig in den Computer-Monitor. Per Internet war er mit der ganzen Welt verbunden. Dort! Im Pazifik tat sich etwas. Etwas großes bahnte sich da an. Das Wetter spielte verrückt. Sofort schickte er eine E-mail an seinen Meteorologen-Kollegen auf den Fidschi-Inseln. In den kommenden Wochen sollte sein Arbeitszimmer im mittelfränkischen Uffenheim zum virtuellen Zentrum der stetig wachsenden El Ni–o-Gemeinde werden.

Kurze Zeit später kam es in einem Wiener Hotelzimmer zu jenem ersten Treffen zwischen Kofie Anan, dem neubestallten UN-Generalsekretär, und Wolfgang Opitz, auf dem dieser jenem gegenüber äußerte, er sei vom guten Willen seines Gegenüber rückhaltlos überzeugt. "Ein ganz großes Problem für mich," weiß Wolfgang Opitz, "denn ich weiß nicht, wer gesprochen hat."

Daß "die Natur aus dem Gleichgewicht geraten ist", davon ist auch Sibylle Koch (32), Mutter dreier Kinder aus Immenstedt, überzeugt. "This is the dawning of the age of aquarius", rezitiert sie einen Vers aus dem erfolgreichen Protestmusical "Hair" (Haare). Sie ist empört über die Untätigkeit der Politiker. Die promovierte Ökofaschistin fordert ein Verbot privater Automobile. "Alles Quatsch," empört sich Dieter Schlindwein (26), Pressesprecher des ADAC-Landesverbandes Thüringen, und fordert, daß endlich Schluß sein müsse mit der "dauernden Verleumdung des deutschen Autofahrers".

Im 18. Stock des Un-Hauptgebäudes in New York City schrillen derweil die Alarmglocken. Wieder einmal: Klimakatastrophe. Und wieder einmal kann die UN (51) nur sagen: Zieht euch Gummistiefel an, sonst kriegt ihr nasse Füße. Doch die Menschen sind zu arm, sich Gummistiefel kaufen zu können. Sie müssen sich eine Plastiktüte um die Füße wickeln.

Hans Duschke

Bov Bjerg fragt: Will er sich beim "Spiegel" bewerben?

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