Ausgabe 02 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Berlin 1898

29. Januar bis 11. Februar

Fünfundzwanzig Jahre hatte das alte Obdachlosenasyl in der Büschingstraße 4 bestanden und in dieser Zeit an die 3 Millionen Menschen Obdach gegeben. Besonders den gestiegenen hygienischen Anforderungen genügten diese Räume nicht mehr und so wurde im hohen Norden Berlins in der Wiesenstraße 55/59 ein hellroter Backsteinkomplex errichtet. Das neue Männer-Asyl des Berliner Asyl-Vereins für Obdachlose liegt direkt an der Ringbahn zwischen den Stationen Wedding und Gesundbrunnen.

Für Friedrich Vogt (Name vom Autor erfunden) bietet das neue Asyl jedoch nicht nur ein Dach über dem Kopf, es ist auch ein Schutzort. Das heißt, daß ihn hier im Bannkreis dieses Hauses die Polizei nicht verfolgen darf. Das einzige, mit dem er sich ausweisen muß, ist seine Not. Niemand darf öfter als vier Mal im Monat das Asyl benutzen. Das Asyl ist für 700 Personen ausgelegt. Vogt betritt nach zermürbendem Warten in der eisigen Winterkälte als erstes die 300 Quadratmeter große Sammelhalle mit 400 Sitzplätzen, die jetzt im Winter gottseidank beheizt ist. Die sich waschen wollen, kommen in Gruppen von je 60 Personen in den Waschsaal, in dem 60 Waschbecken für Kalt- und Warmwasser vorhanden sind. Vogt möchte baden und betritt in einer Gruppe von 80 Mann durch eine andere Tür den Auskleideraum, dann gehen alle entkleidet in den Desinfektionsraum und schließlich in den Badesaal, der auf 275 Quadratmeter 20 Wannen- und 56 Brausebäder bietet. Nach dem Baden nimmt er in einem Teil dieses Baderaumes die inzwischen desinfizierte Kleidung in Empfang und zieht sich wieder an. Sowohl vom Bade- wie vom Waschraum kommt man danach in die Speisehalle. Die Küche ist für 400 Liter Suppe, 200 Liter Kaffee und 50 Liter Milch eingerichtet. Am Küchenschalter werden die Speisen ausgegeben, Friedrich Vogt erhält, wie jeder, einen Napf Reissuppe und ein großes Stück Brot. Manchmal gibt es auch Mehlsuppe. In der Speisehalle können 300 Personen sitzen, auch kann Vogt hier seine Kleider ausbessern, das Material liefert die Verwaltung. Dann geht es zu den 14 Schlafsälen, die mit Heiz- und Ventilations-Einrichtungen versehen sind. In jedem Schlafsaal sind 50 Betten. Um sechs Uhr abends öffnet das Asyl, um sechs Uhr morgens, im Winter sieben Uhr, müssen die Asylisten es wieder verlassen. Rauchen, Schnapstrinken und Lärmen sind verboten, bis 10 Uhr darf man sich leise unterhalten. Durch die schrille Glocke wird man morgens mit allen anderen aus den glücklichen Träumen gerissen, vor den Scheiben dämmert der Wintertag. Im Speisesaal gibt es noch einen Napf Milchkaffee und eine Schrippe. Eine halbe Stunde später sind alle wieder auf der Straße, obdachlos.

Falko Hennig

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 02 - 1998