Ausgabe 02 - 1998berliner stadtzeitung
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Doom

"Noch so ein Klugscheißer", sagst du, und ich weiß, jetzt wird das B-Wort fallen, "noch so ein Klugscheißer, der mit postmoderner Beliebigkeit auf dem Chaos surft, sich an der Oberfläche aufgeilt und sich vor Verantwortung drückt." Doch auch Surfen ist anstrengend, und oft wirst du untergehen. Es geht darum, wieder aufzutauchen. Daß es dazu ein bißchen mehr als Beliebigkeit braucht, darum geht es in Steven Shaviros "Doom Patrols", das sich den Comic von DC sowie fünfzehn Figuren unserer Zeit, von Michel Foucault bis bis Bill Gates, zum Anlaß nimmt, den arg strapazierten und regelmäßig mißverstandenen Begriff der Postmoderne mit Leben zu füllen. Den fragmentierten Körpern Cindy Shermans schenkt Shaviro dieselbe Aufmerksamkeit wie Cliff Steele, einem der unglücklichen Helden der Doom Patrol, der nur noch als Gehirn in einem High-Tech-Körper existiert und an der Wirklichkeit der Welt zweifelt. Woher soll er wissen, welche Wahrnehmungen von seinen Sensoren vorgekaukelt und verzerrt werden, überhaupt: wer er selbst eigentlich ist, wenn ständig an seinem Körper gebastelt und seine Programme verändert werden, sein Gehirn in diesen Wartungsphasen in einem Glas mit Nährlösung steckt und dort mangels äußerer Reize heftigst halluzuniert? Cliff ist ein "cogito" ohne "ergo sum". Der modernistische Dualismus von Körper und Geist zieht bei ihm, der ohne technologische Ausweitungen nicht existiert, nicht mehr. Nicht einmal die Isolierung des Denkens von der Welt der Wahrnehmungen kann ihm Gewissheit von seinem Sein geben.

Wie also kann ich leben, wenn die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Simulation, Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich unmöglich wird? "Die Dinge sind exakt wie sie sind und was sie sind. In diesem postmodernen Leben müssen wir die Dinge so nehmen, wie wir sie vorfinden", wird Shaviro, Borroughs im Munde, nicht müde zu predigen. "Bullshit, damit affirmierst du nur den Status quo", sagst du, zunehmend genervt von der Leichtigkeit, mit der hier existentielle Probleme abgetan werden. Dabei verkennst du die Chancen, die in dieser Haltung stecken. Die Postmoderne ist für Shaviro vor allem ein Projekt der radikalen Freisetzung des Einzelnen aus den Sackgassen und von den Autoritäten der Moderne, und eine Möglichkeit, in deren Trümmern zu überleben. Halt dich nicht auf mit der Suche nach Bedeutungen und dem "Wesen" der Dinge und Zeichen, eigne sie dir an. Nutze die Fragmentierung monolithischer Begriffe wie Geschlecht und Individuum, um dich aktiv damit auseinanderzusetzen und ständig neue Rekombinationen zu finden. Befreie dich von der autoritären Forderung, mit eigener Stimme zu sprechen, denn die ist verseucht von den Viren der Sprache machtbestimmter Diskurse. Sprache ist Wirklichkeit, macht Wirklichkeit. Nimm, ganz im Sinne einer Kommunikationsguerilla, das Gegengift, nimm andere Stimmen an, mach sie zu deinem Instrument.

Hast du erstmal erkannt, wie Konstruktionen von "Wahrheit", "Sexualität" oder "Natur" zustande kommen, kannst du dich ihnen gegenüber nie mehr gleich verhalten. Es gab nie konfliktfreie Geschlechterrollen, widerspruchsfreies Handeln oder menschliche Immunität gegenüber techologieinduzierten Mutationen. Der Unterschied zu damals ist, daß du dir dessen bewußt bist. Vergiß also endlich die alten Kategorien und Klassifizierungen und riskier einen Blick auf das Ganze, damit du neue Zusammenhänge und Wege erkennst.

Nörgle meinetwegen über die "teilnahmslose Distanz", von der Shaviro redet, und über das "erhabene Desinteresse", das er an Dean Martin so toll findet. Oder über seine Vorstellungen von postmoderner Gemeinschaft, die mehr mit zusammenhanglosen Insektenschwärmen als einem organisierten Bienenstaat zu tun haben und von mir aus auch neoliberalen Ideologien entgegenkommen. Aber sieh mal, wer ist denn schon Shaviro. Sein Buch ist eine Maschine, die du selbst mit anderen vernetzen kannst, wie du willst, für deine eigenen Zwecke. Jetzt sag nur nicht, das passiere doch alles nur im Kopf.

Markus S. Ailer

Steven Shaviro, "Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne.",
Bollman Verlag 1997, 233 S., 29,80 DM

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