Ausgabe 01 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Colossale Harmonie im Multimaxx

Eine Bekannte ruft mich an. Im Prenzlauer Berg hat ein neues Kino eröffnet. Ein Kino der neuesten Generation, schwärmt sie am Telefon. Ein Multimaxx. Ganz toll. Muß man hin. Sagt sie. Ich hatte schon davon gehört. Früher nannte man das Schachtelkino. Im Prinzip geht es darum, möglichst viele Filme unter einem Dach zu zeigen. Damit möglichst viele Menschen dort ins Kino gehen (und vorher bezahlen). Das dazugehörige Szenario sieht ungefähr so aus. Man sitzt mit Freunden oder mit der Familie zuhause und weiss nicht, was man tun soll. Jemand schlägt vor:

"Ach, gehen wir doch ins Kino." Tolle Idee. Fünf Leute gucken sich an. "Und in welchen Film?" Es folgen endlose Diskussion, bis einer freudig ausruft: "Im Multimaxx da läuft für jeden was." Und schwups sind wieder fünf planlose Leute auf dem Weg ins Kino. Neu im Unterschied zu den Schachtelkinos sind angeblich die durchgängig großen Leinwände, der gute Sound, die freie Sicht von allen Plätzen und die Beinfreiheit. Und der Erlebniswert. Meine Bekannte meldet sich wieder mit nörgeliger Stimme. Kulturkritik meinerseits ist jetzt nicht angesagt. Ich mag diese Bekannte und höre mich also fragen: "Ja, und in welchen Film?". Sie weiß es nicht. Aber bei zehn Filmen würde schon etwas dabei sein. Wir könnten doch vor Ort entscheiden, was wir uns ansehen. Da ich sie wirklich sehr mag, willige ich ein.

Steil ragt ein prächtiger Schriftzug in die Nacht und erinnert mich an irgendetwas, aber es fällt mir nicht ein woran. Die Ecke Schönhauser Allee/Gleimstraße wirkt völlig verändert. Viele Menschen. Heftiger Parkplatzsuchverkehr. Das riesige Foyer ist beeindruckend. An den Kassen lange Schlangen. Ebenso an den Popcornständen. Sehr nett ist das freigelegte Mauerwerk. Das schafft ein authentisches Ambiente. Rustikal und modern zugleich. Wie man sich in Amerika Europa vorstellt. Meine Bekannte ist glücklich. Ein bekannter Off-Theater-Regisseur läuft vorbei und hat ein merkwürdiges Glitzern in den Augen. Ich komme mir sehr konservativ vor. Es ist kurz nach acht Uhr. Aus unsichtbaren Lautsprechern säuselt eine Stimme: "Die Vorstellungen sind in allen Kinos ausverkauft. Nur für Spice World gibt es noch Karten."

Erschrocken schaue ich meine Bekannte an, aber sie winkt sie ab. "Dann gehen wir eben in die Spätvorstellung. In Comedian Harmonists. Ich hole schon mal die Karten." Während sie die Karten holt, denke ich kurz über die Bedeutung von Filmen in meinem Leben nach. Und ob das hier etwas damit zu tun hat. Ich komme zu keinem Ergebnis, bis meine Bekannte wieder da ist und vorschlägt, an der großen Bar im hinteren Teil des Foyers einen Drink zu nehmen. Ich nehme es positiv und nutze die Gelegenheit zum Biertrinken. Nach dem dritten fühle ich mich ziemlich wohl. Das Foyer hat sich unversehens in eine Bahnhofshalle verwandelt. Züge fahren aus und ein und Leute laufen aufgeregt durcheinander, auf der Suche nach dem richtigen Abfahrtsgleis. Uniformierte helfen lächelnd weiter. Meine Bekannte ist verschwunden. Es kann sein, daß sie auf Toilette mußte. Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ist sie mit einem anderen durchgebrannt. Es ist mir nicht egal, aber was soll ich jetzt noch tun? Die Spätvorstellung hat längst begonnen und es ist leer geworden. Um Mitternacht fahren keine Züge mehr. Ich beschließe zu gehen. Draußen leuchtet immer noch die Schrift wie eine falsche Fackel. Mir fällt ein, woran mich das erinnert. Es ist das nächtliche Leuchten der einzigen Tankstelle an einer Kleinstadtkreuzung. Letzte Zufluchtsstätte der Zivilisation. Die Benzinpreise steigen. Ich höre ein Rufen hinter mir: "Stefanó, warte auf mich." Meine Bekannte kommt angerannt, atemlos. "Ich komme mit", haucht sie mir ins Ohr. "Wohin?", frage ich. Sie schüttelt den Kopf. "Nur weg von hier."

stefanó

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