Ausgabe 01 - 1998berliner stadtzeitung
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Hey, hey, my, my

Beckett auf Acid in der Volksbühne

1. Zum Ausklang des vergangenen Jahres wollte man es an der Volksbühne noch einmal wissen. Nachdem das Jahr 1997 ganz im Zeichen von Aliens, Ufos und Maschinenmenschen gestanden hatte, versprach die Ankündigung einen echten "Space Western", eine musikalische Tragödie, um sich aus den theoretischen Höhen des linker-weißer-Mittelschichtsmann-sucht-die-korrekte-Antwort-auf-schwarze-Erlösung-durch-Ufos-Fantasien-Symposiums wieder zurück auf die Mutter Bühnenerde zu beamen. Ein wie immer vollmundiges Vorhaben. Volksbeauftragter: Gastregisseur Jürgen Kruse.

2. Jürgen Kruse zählt zur (relativ) jungen Garde der Regisseure, die man gern mit dem nicht näher definierten Genre "Poptheater" in Verbindung bringt. Mit dem ebenfalls für seine Pop-Attitude gerühmten Leander Haussmann ("Haussmann ist Kinderschokolade", Castorf) prügelt er sich gelegentlich medienwirksam in der Kantine des Bochumer Theaters. Kruse inszeniert zum ersten Mal an der Volksbühne. Nach Berlin (1987 an der Schaubühne) und Freiburg ist es seine dritte Version des Stückes von Sam Shepard.

3. Sam Shepard hat "The Unseen Hand" 1967 geschrieben. Mitten im schönsten Liebessommer des Jahrhunderts spielt es irgendwo in der amerikanischen Wüste am Rande eines abgefuckten Highways in einem Ort namens AZUSA (USA von A bis Z). Sam Shepard ist Schauspieler (u.a. "Homo Faber") und Drehbuchautor. Sein wohl berühmtestes Buch schrieb er für Wim Wenders großartigen "Paris Texas". Soeben ist ein Buch mit neuen Erzählungen, Tagebuchauszügen, Dialogen und anderen Texten von ihm erschienen (später mehr dazu).

4. Auf der VolksBühne hat man ja schon einiges sehen können. Bühnenbilder, oft unterstützt von der imposanten Mechanik der riesigen Drehbühne und den herausfahrbaren Podesten, die schon alleine manchen Besuch gelohnt haben. Immer wieder für eine Überraschung gut: Die Ausnutzung des vielen Platzes auf der Hinterbühne, die dem Spiel einen wohltuenden Schuß Unendlichkeit verpaßt. Genau diese Eigenschaft kommt auch dem Bühnenbild von "The Unseen Hand" zugute. Die schräge Bühne ist in eine Wüstennacht getaucht. Im Vordergrund steht ein 51er Chevy, im Hintergrund blinkt das abgebrochene Schild eines stillgelegten Drive-In. An einer Art Westernpiano sitzt Sir Henry, der zwischen den eingespielten Songs für die akustische Raumatmosphäre sorgt (sehr schön: das Vögelzirpen, als es hell wird). Und ganz hinten oben scheint der Vollmond. Notwendig. Weise.

5. Das mit der Nacht ist sehr ernst zu nehmen. Die Bühnenbeleuchtung ist total reduziert auf einige wenige Spotlights, die manchmal noch weniger werden. Mitschreiben ist beispielsweise unmöglich. Man sitzt in der Wüste. Es ist stockdunkel. Und die Nacht hat gerade erst begonnen.

6. Die Geschichte ist schnell erzählt. Drei alte Männer stellen fest, dass sich die Welt verändert hat.

7. Was tun also die Schauspieler (mit viel Spaß bei der Sache) zweieinhalb Stunden lang auf der Bühne? Sie quatschen (manchmal ein bißchen zuviel), sie spielen (manchmal einen Tick zu volksbühnenmäßig aufgedreht) und sie hören viel amerikanische Musik (von Johnny Cash bis Townes van Zandt). In so einer amerikanischen Wüstennacht hat man Zeit und Ruhe. Da ist ein Dialog so breit wie das Land oder ein Cowboy auf Droge. Und so unsinnig wie ein Klassentreffen nach 30 Jahren. Oder so sinnig. Man merkt nämlich, daß die Zeit eigentlich stehengeblieben ist. Obwohl man immer geglaubt hat, daß sie gewissenlos voranschreitet. Die drei Brüder Morphan sind schon im alten Westen zusammen geritten. Später waren sie Brigadekämpfer in Spanien. Dann wurden sie Hippies. Und heute sind sie Ossis. Diese Brüder sind zeitlos und ewig. Sie bleiben sich treu, indem sie sich langsam verändern. Sie sind ein bißchen zottelig, ein bißchen verrückt, aber ehrlich und großherzig. Wenn es drauf ankommt, dann kann man sich auf sie verlassen. Man kann über sie lachen, wenn man will. Aber die Leute lieben sie. Die wirklichen Leute. Die Leute-Leute.

8. Das Stück hat etwas von einem durchgeknallten Klassiker. Ein Rock´n´Roll-Klassiker. Ein zeitloses Drama der Popkultur. Ein schönes Märchen. Eine weitere Variante des amerikanischen Traumes. Beckett auf Acid oder Douglas Coupland auf einem Trip in die Vergangenheit. Die Melancholie der Fröhlichen. Alles wird gut. Puristen der abendländischen Kultur und postmoderne Jünger der Avantgarde können beruhigt zuhause bleiben.

9. "Ein Mann sollte immer wissen, welchen Zug er demnächst machen will. Man muß es sorgfältig vorbereiten. Züge herausfinden. Sicher sein, daß es die eigenen sind und nicht die von jemanden anderem. Das ist das Großartige an diesem Land, weißt Du? Die Tatsache, daß du deine eigenen Züge machen kannst und dir die Zeit dazu nehmen kannst, ohne so einen Kerl hinter dir, der an deinen Schnüren zieht. Ist vielleicht weit weg davon, wirklich frei zu sein, aber es kommt näher ran als alles, was ich bisher gesehen habe." (Sycamore Morphan)

10. Was das ganze mit Ufos zu tun hat? Gar nix. Zwar hüpft Willie vom fernen Planeten Nogoland auf der Bühne herum (sehr ausserirdisch: Silvia Rieger) und will die drei Brüder dazu animieren, eine Revolution mitdurchzuziehen. Aber bevor es dazu kommen kann, haben sich alle Probleme von selbst gelöst. Willie hatte einfach zu viele Haschischkekse gegessen. Aber irgendwann geht auch das vorbei.

11. Und das alles soll ein Abgesang sein, wie irgendwo zu lesen stand? Mitnichten. Herausgekommen ist eine Würdigung des Rock´n Roll-Dreams und eines seiner größten Künstlers - Neil Young, der Prolog und Epilog beigesteuert hat. Rock´n Roll wird zelebriert, beerdigt und für lebendig erklärt. So geht das. Hey, hey, my, my - Rock´n Roll will never die.

12. Die Volksbühne kommt dem Poptheater immer näher. Was auch immer das genau sein soll, es geht dabei um Unterhaltung, Jugend, Musik, um eine Verknüpfung von verschiedenen Medien, um Grenzüberschreitung, Mode und Verfremdung. Um Coolness. Um Intuition statt Logik oder die Reinheit der Leere. Und natürlich um Geld. Das Buch zum Film. Die CD zum Stück. Die Streichholzschachtel zum Theater. An der Volksbühne ist das alles selbstredend volksnah, kostengünstig oder umsonst. Die thematische Verknüpfung von Premieren und Begleitveranstaltungen im Roten Salon oder anderswo praktiziert die Volksbühne schon länger mit Erfolg. Anläßlich von "The Unseen Hand" haben Herbert Fritsch (Blue Morgan) und Sir Henry eine CD mit Texten von Sam Shepard aufgenommen. Fritsch liest komisch und kraftvoll, äusserst abwechslungsreich und zusammen mit den Geräuschen von Sir Henry ist eine schöne 70-minütige Hörspielminiatur daraus geworden, die ihren Charme auch daraus bezieht, daß man ihr anhört, wie spontan sie entstanden ist.

Stefan Strehler

"The Unseen Hand" in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Herbert Fritsch und Sir Henry mit Texten von Sam Shepard am 18. und 25. Januar im Roten Salon, jeweils 22 Uhr.
Die CD gibt es für 10 DM bei der Volksbühne (fon 247 67 72).

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